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    Taube im Sturm - Das Schloss

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    Eine Leseprobe

    Während Marie noch allein auf dem Hof in der Sitzecke verweilte und grübelte, verschwand mit einem Mal die Sonne. Sie schaute nach oben, und was sie da sah, gefiel ihr gar nicht. Am Himmel zogen düstere Wolken, vom Osten kommend, sich zu einer großen Front zusammen. Das verhieß nichts Gutes.
    Nun kam auch Frau Haufe aus ihrer Küche gelaufen und ihr Blick richtete sich besorgt diesem Treiben entgegen. Sie schüttelte den Kopf und lief zu Marie, die noch immer am Tisch saß.
    "Herrje, das sieht gar nicht gut aus. Laut Wetterbericht sollte es einige Wolken geben, aber das - sieht nach Unwetter aus. Wir haben noch reichlich eine Stunde Zeit, bevor wir mit den ersten Gästen rechnen können - und das könnte eng werden. Wenn das kommt, wonach es aussieht, müssen wir die Tische wieder abräumen.
    Ich möchte nur wissen, wo Herr Baumann bleibt?" Just in dem Moment, als sie nach ihm Ausschau hielt, öffnete sich das kleine Tor zum Hof. Herr Baumann und ein junger Mann betraten den Hof.
    "Ah, endlich! Und er bringt gleich noch Hilfe mit?" Frau Haufe wäre ihnen am liebsten sofort entgegen gelaufen, schaute aber dann doch erst zu Marie.
    Beide guckten sich verdutzt an, zuckten mit den Schultern und liefen gemeinsam auf die Ankömmlinge zu.
    "Entschuldigt, ich wollte schon längst hier sein, aber.....", damit blickte er zu dem jungen Mann an seiner Seite. "Das ist Michel, mein Großneffe, er stand unerwartet bei mir vor der Tür."
    Marie und Frau Haufe begrüßten Michel herzlich.
    "Wie alt ist er, müssen wir ihn schon per Sie ansprechen?", meinte Frau Haufe an Herrn Baumann gewand, und man sah ihr an, dass sie positiv von der Sache überrascht war. "Dumme Frage, entschuldigt - das war unhöflich; heute ist aber auch ein verrückter Tag", bemerkte sie schnell ihren Fehler, in der jetzigen Situation so etwas zu fragen.
    "Ich bin neunzehn und habe gerade beendet…habe gerade…meine Schule beendet, Sie können sagen ruhig du. - Entschuldigen Sie, ich bin etwas aufgeregt. Da kann schon mal passieren, das mein Deutsch nicht ist so gut."
    Marie und Frau Haufe blickten sich kurz an, um dann fragend auf Herrn Baumanns Erklärung zu warten. Aber als dieser keine Anstalten machte die Sache aufzuklären, fragte Marie direkt bei Michel nach: "Du sprichst gut Deutsch, aber es ist sicher nicht deine Muttersprache?"
    "Ich komme aus Frankreich. Mein Vater aber ist in Deutschland geboren, und gab viel Wert auf meine Deutschkenntnisse…ja; es ist aber schwierig mit dieser Sprache. Ich muss noch lernen. Hier wird das bestimmt bald viel besser."
    "Ja, Michel, das wird es. Wir werden dir dabei helfen, vor allem, in dem wir versuchen werden, auf unserer Dialekt zu achten. Das muss nicht sein, das du den lernst. Ein gewisses Maß an Hochdeutsch zu verwenden klingt besser, und ist verständlicher. Entschuldige bitte meine Frage von vorhin: Das du ein junger erwachsener Mann bist, ist nicht zu übersehen.
    Wie lange wirst du hier bleiben?", sagte Frau Haufe in ungewohnt langsamer, ruhiger, und sauberer Aussprache zu Michel, so dass dieser etwas lächeln musste. Aber nach der Frage ruhte sein Blick geduldig auf Herrn Baumann; der wieder mit einer Erklärung zögerte.
    "Das wissen wir noch nicht", antwortete er dann jedoch unerwartet schnell - sicher, um es vorerst dabei bewenden zu lassen.
    Just in diesem Moment, fegte eine kleine Windböe über sie hinweg. Nun wurden sie wieder daran erinnert, dass die Tische schnellstens abgeräumt werden mussten.
    "Wenn wir Glück haben", meinte Frau Haufe, "können wir pünktlich zur Eröffnung alles wieder auf dem Tisch stehen haben. Hoffentlich verziehen sich die Wolken schnell. Wenn am Wetter diese Aktion hier scheitern sollte, das wäre wirklich traurig. Eine halbe Stunde werden wir abwarten, dann muss entschieden werden, ob drinnen aufgetafelt wird. Das dürfte von der Zeit zu schaffen sein. - Doch wollen wir hoffen, dass die Feier auf dem Hof stattfinden kann. Sonst wird es mit den Stühlen eng. Warum haben wir nicht schon eher daran gedacht? Wie konnten wir nur dem Wetter vertrauen.
    Ich weiß nicht, wo auf die schnelle Stühle zu bekommen sind, falls in dem Saal gefeiert werden muss. Ganz zu schweigen davon, dass der Saal nicht viel hermacht. Damit werden wir keine Punkte gewinnen können."
    "Ich werde mich sofort darum kümmern", sagte Herr Baumann.
    "Ach, Herr Baumann, wenn wir Sie nicht hätten - für alles eine Lösung parat." -
    ‚Saal? Was für einen Saal meint denn Frau Haufe?' Marie guckte erst verwundert zu ihr, dann zu dem Schloss. "Wir haben doch gar keinen Saal: Oder?"
    "Ja, Marie, eigentlich hast du Recht. Ich war jetzt über den Wetterwechsel und die Sache mit Michel etwas durcheinander geraten. Aber was ist ein Schloss ohne Saal - Festsaal. Uns fällt da schon was sein."
    "Was?", fragte Marie verdutzt.
    "Die Küche, der Speiseraum, die Einganshalle - zum Beispiel; zur Not alles zusammen."
    "Ah, ja", erwiderte sie darauf nur.
    "Ja ich weiß, jetzt darüber nachzudenken kommt für unser heutiges Fest zu spät. Es war so auch nicht gedacht. Wer konnte denn… ach herrje…"
    "…ahnen, dass es stürmt und wie aus Gießkannen regnen wird? Nein, das ist das letzte was man… bei…", brach Marie verärgert und auch etwas mutlos - enttäuscht ab und schaute zum Himmel hoch.
    "Ja, wir hätten wohl doch vorher ein Gebet nach oben richten sollen; oder hat jemand vielleicht…?"
    "Ich nicht - leider, aber fürs nächste Mal werde ich mir das merken, Herr Baumann.
    Auch wieder etwas, was wir versäumt haben."
    "Kann es sein, das niemand an das Gelingen von diesem Fest richtig glaubt", warf nun Michel in die Runde. Und erntete dafür einige ratlose Blicke.
    "Ach, Michel, das ist nicht so einfach zu verstehen, hier läuft viel Ungläubiges zusammen. Doch hast du Recht, wenn wir nicht daran glauben…wer…
    Gut, jetzt müssen wir die Tische abräumen", sagte Frau Haufe schnell und blickte erneut zum Himmel; in ihrem Blick lag etwas flehendes, das sich augenblicklich in etwas bedrohliches verwandelte.
    Der Wind wurde nun stärker und mit ihm zogen die dunklen Wolken über sie hinweg. Es war beeindruckend, diesem dahin fliehenden Gebilde nachzuschauen. Ja, aber leider blieb ihnen wenig Gelegenheit, dies zu bewundern; denn nicht nur die Wolken befanden sich scheinbar auf der Flucht. Mit großer Eile wurden die Tische leer geräumt.
    Während alle voll mit einsammeln beschäftigt waren, blieb ihnen verborgen, das sich der Himmel zu beruhigen schien. Erst nach dem alles von den Tischen, Bänken, und was sich außerdem auf dem Hof getrollt hatte, in Sicherheit gebracht war, nahmen sie das erfreuliche Signal von oben entgegen: "Sieht gut aus, dahinten", meinte Michel, "ich glaube, wir werden haben Glück mit dem Wetter."
    "Ja, dann hätten wir eine Hürde gemeistert", sagte Marie und lächelte nun etwas erleichtert. "Und wie still das auch schon wieder ist, so, als wäre nie etwas gewesen. Sobald wir sicher sein können, dass sich die Wetterlage beruhigt hat, werden wir erneut auftafeln. Oder?"

    Die Wolken verzogen sich schnell und hinterließen einen makellosen Himmel. Die Sonne strahlte mit voller Kraft, es kam fast einer Entschuldigung gleich; ja, als wolle sie sich für das, was da gerade passiert war, entschuldigen. Stellvertretend für ihre gesamte himmlische Sippe. - Es wurde höchste Zeit, die Tische wieder einzudecken.
    Marie schaute zwischendurch auf ihre Armbanduhr, noch dreißig Minuten etwa, bis mit den ersten Gästen gerechnet werden musste. Die Männer kümmerten sich nebenbei um die Fische; auch da ergab sich, durch Herr Baumanns Verspätung, Eile. Aber wenn jetzt nichts mehr dazwischen funkt, dürfte alles zu schaffen sein.

    -

    Nachdem die Tische wieder im alten Glanze erstrahlten, lief Frau Haufe in die Küche. Sie wollte Bescheid geben, wenn Maries oder Michels Hilfe gefragt war, jedoch zum hinunter tragen der fertigen Speisen, brauche sie nur Michel, kündigte sie bereits an. - So schaute Marie noch einmal in ihre Bücher und überlegte nebenbei, wie wohl der heutige Abend verlaufen könnte.
    Nach einer Weile kam Frau Haufe zu ihr und setzte sich neben sie. "Ach, jetzt muss ich mich mal fünf Minuten setzen und etwas trinken. Und du Marie, ist bei dir alles in Ordnung, oder hast du noch ein paar Fragen zu deiner Lesung? Ich weiß, ich habe dich mit der Themenauswahl ein bisschen…im Stich gelassen; aber du solltest halt für dich entscheiden, was du nehmen möchtest.
    Du schaffst das schon! Aber vielleicht können wir doch noch einmal gemeinsam die Bücher und geeignete Textstellen durchgehen, wir haben noch Zeit. Oder zeig mir einfach, was du dir ausgesucht hast. - Was meinst du, sollte ich lieber die Begrüßung übernehmen, damit du noch etwas Gelegenheit hast, dich auf die Leute einzustellen?"
    "Ja, das ist gut. Zuvor aber werde ich das Tor öffnen gehen und schauen, ob nicht doch schon ein paar Gäste da sind, es könnten ein paar überpünktliche dabei sein." Marie schien nicht ganz bei der Sache zu sein, wunderte sich sogar, dass Frau Haufe mit einem mal so gut drauf war.
    "Gut, und wenn da niemand ist, kommst gleich wieder her, Ok! Wir sehen auch von hier jeden herannahenden Gast rechtzeitig, noch bevor sie das Tor erreichen. Wir wollen es ja nicht übertreiben!"
    Marie wollte gerade zum Tor loslaufen, da rief Michel zu ihnen herüber: "Soll ich das Tor öffnen gehen?"
    "Ja, gern. Ich wollte es gerade tun, aber gegen zwei starke Männerarme die das leichter bewältigen, habe ich nichts einzuwenden."
    Damit wandte sich Marie wieder zu Frau Haufe und setzte sich neben sie. Beide schauten sie Michel dabei zu, wie er das Tor öffnete. Er schien, als hätte er dies schon hundertmal getan. Auch hatten sie den Eindruck, dass es ihm hier ganz gut gefiel - trotz dieses Chaos, oder gerade deswegen...
    "Das wird sicher auch für ihn interessant werden, und mit dem Fest haben wir ihm zugleich auch eine Begrüßungsparty anzubieten. Na, wenn das kein gutes Zeichen ist?", sagte Marie etwas abwesend. "Er ist erst seit zwei Stunden hier, aber man könnte meinen, dass er hierher gehört. Eigentlich ist er zum rechten Zeitpunkt gekommen, mit ihm sind wir hier komplett. Ich denke, wir vier machen auf die Anderen gewiss einen guten Eindruck."
    Jetzt blickte Frau Haufe nachdenklich zu Marie: "Er scheint ein tüchtiger Junge zu sein. Wenn das hier vorbei ist, werden wir hoffentlich die Gelegenheit bekommen, ihn besser kennen zulernen."
    "Ja, das hoffe ich auch. Das könnte interessant werden. Ich meine, er taucht so aus dem Nichts auf und schon ist er auch nicht mehr wegzudenken. Da möchte ich auch nicht glauben, dass er bald wieder ins Nichts verschwindet."
    "Das verstehe ich. - Wie spät ist es jetzt?"
    Marie schaute auf ihre Armbanduhr: "Zehn Minuten vor sechs."
    "Da wird es aber langsam Zeit, dass jemand kommt. Oder irre ich mich da etwa? Ich dachte, man rennt uns hier die Bude ein und das 18.00 Uhr alle bereits auf ihren Plätzen sitzen, um gespannt auf das zu warten, was wir ihnen bieten werden."
    "Nein, mir kommt es auch seltsam vor. Es ist noch immer nichts zu sehen; wenn sie sich doch wenigstens da draußen schon versammeln würden. - Frau Haufe, ich glaube, hier stimmt irgendetwas nicht. Ich sehe uns bereits hier allein den Abend verbringen; am Tisch sitzend und auf einen Berg geräucherter Fischen starrend. Die Herr Baumann - wer weiß wo und wie - auftreiben konnte; und ich möchte nicht wissen, was ihn das wirklich gekostet hat. Ich staune sowieso über den Mann - und über seine Beziehungen. Für einen Eigenbrödler ist das alles ziemlich ungewöhnlich. Vielleicht verrät er uns das einmal. Bisher hält er sich sehr bedeckt, wenn es um seine Vergangenheit geht - und überhaupt. Oder wissen Sie etwas mehr, Frau Haufe?"
    "Marie, du kannst mich doch auch duzen. Ich weiß gar nicht, ob ich dir das schon angeboten habe."
    "Ich glaube nicht."
    "Entschuldige, Marie, dass ich dich einfach geduzt habe. Aber ich dachte, dass es angebracht ist, so lässt sich leichter reden. Es wäre mir sicher eh andauernd rausgerutscht."
    "Macht nichts, ich fand das in Ordnung. Aber ich habe damit so meine Probleme, sicher wegen des Alters. Seien Sie mir deshalb nicht böse. Sicherlich kommt es dann ganz von allein. Außerdem ist es für mich auch eine Art besonderer Respektbekundung, gegenüber dem Alter."
    "Ist schon gut, Marie. Ich heiße übrigens Anne. - Was den Herrn Baumann angeht, ich weiß sicher nicht mehr als du - was ich über ihn bereits erzählt habe. Er spricht nicht über seine Vergangenheit; es ist als…ach, ich weiß nicht, was ich davon halten soll."
    "Na ja, lassen wir uns halt überraschen.
    Ach, und wegen der Bücher, Frau Haufe - ich meine Anne, das muss jetzt nicht mehr sein. Ich bin zu aufgeregt, um irgendwas Neues in meinen Kopf rein zu bekommen - so kurz davor macht es wohl auch wenig Sinn, denke ich. Und wie es ausschaut, haben wir vielleicht bald ein ganz anderes Problem - wenn niemand kommt. Dann wird uns genügend Zeit und Muse bleiben, zum Lesen."
    Anne betrachte Marie eine Weile nachdenklich, während diese hoffte, als Ergebnis daraus könnten einige aufmunternde Worte purzeln, aber stattdessen sagte sie nur: "Gut, dann werden wir eben mal zu den Männern gehen und hören, was es Neues zu berichten gibt", und schon war sie aufgestanden.
    "OK, auf zur Ofenfront - die Torfront ist leider leer." Mit diesen Worten stand auch Marie auf.
    "Nicht so pessimistisch, Marie! Es wird schon werden. Und vergiss nicht, du bist nicht allein, wir hängen alle mit drin: Im Guten wie im Schlechten."
    "Ja, das ist gut zu wissen."
    Als beide nun langsam auf den Ofen zu liefen, sahen ihnen die Männer bereits entgegen. Mit zum Teil finsteren Mienen, wie Marie fand; oder vielleicht schauten sie auch enttäuscht.
    "Na, wo bleiben den eure feinen Gäste. Ich hätte doch eher vermutet, dass sie vor lauter Neugier, ne halbe Stunde zu früh kommen", rief ihnen Herr Baumann auch gleich zu. "Für mich fängt die Sache langsam an zu stinken, aber mich wundert das gar nicht. So kennt man sie, mich würde eher überraschen, wenn es anders wäre."
    "Ja, ja, Onkel, immer einen Scherz auf den Lippen und immer im richtigen Moment. Ich glaub, die beiden Frauen wollen von uns was Positives hören."
    "Warum schön reden; schöner wird die Situation davon auch nicht."
    "Ja, er hat ja Recht!", äußerte sich Frau Haufe verständnisvoll über die Worte des Herrn Baumann. "Ich wünschte aber, er hätte es nicht."
    "Ich sehe jetzt jemanden kommen", sagte Marie. "Es müssen mindestens ein halbes Dutzend Leute sein"; sie hatte keinen Moment das Tor aus den Augen gelassen, so, als könnte sie damit etwas herbeizaubern.
    "Entschuldigt mich, ich werde zu ihnen gehen, es könnten ja Gäste sein." Bei diesen Worten legte sich ein kleines verschmitztes Grinsen, in ihr sonst engelhaft wirkendes Antlitz - und schon lief sie davon, in Richtung Tor.
    Dort angekommen, begrüßte Marie die Gäste herzlich. Und nach kurzem Gemurmel untereinander, überreichten diese ihre Einladungskarten und teilten unumwunden mit, dass sie in Vertretung kamen. Auf Maries Frage für wen, antwortete ein Mann im verständnisvollem Ton: "Ich glaube, alle die eine Einladung im Amt erhielten, haben diese weitergereicht - jedoch ebenfalls an Mitarbeitern aus dem Amt."
    Marie war enttäuscht und fragte: "Ist keiner von Ihnen ein geladener Gast aus der Verwaltung? Sie dürfen das nicht falsch verstehen, es ist egal, ob nun der oder der, nur ist es doch sehr eigenartig."
    "Nein", und wieder antwortete derselbe Mann.
    "Ich verstehe das nicht. Was hätte man sich vergeben, hier vorbeizuschauen. Schließlich machen wir das in gewisser Weise auch für sie: damit sie selbst ein Urteil bilden können, was wir hier tun. Immerhin müssen wir allein klar kommen, doch ganz ohne den Schimmel geht es ja doch nicht. Irgendwann macht man uns die Initiative zum Vorwurf.
    Gab es dafür einen wichtigen Grund oder ist es Desinteresse, das niemand kommen wollte?", fragte Marie skeptisch.
    "Das wissen wir nicht", antwortete der Mann. "Ich bekam meine Einladung mit den Worten überreicht, mir einen schönen Abend zu machen. Ja, und deshalb sind wir alle hier. Ich weiß aber nicht, ob die anderen noch kommen: Wir jedenfalls freuen uns, hier sein zu dürfen. Natürlich interessiert es uns was sie hier machen. Es ist wirklich ne tolle Sache, dieses Schloss wieder zu beleben. Bei einem solchen Projekt bleibt es leider nicht aus, das einige Leute misstrauisch werden; sie denken, dass damit zu viel Unruhe gestiftet wird."
    "Unruhe?" fragte Marie ungläubig.
    "Keiner denkt, dass Sie es schaffen. Ja, da heißt es dann schnell: Wer hoch hinaus will wird tief fallen. So glaubt auch niemand an Ihre Sache, zumindest die meisten. Ich habe mich aber nie in das Gerede mit eingemischt, das war gut, deswegen bin ich wohl hier. Vielleicht denken die anderen uns so überzeugen zu können, ihre Meinung über das Schloss zu teilen. Doch ich meine, mich bisher nicht geirrt zu haben: einen Versuch ist es wert. Außerdem glaube ich, dass Sie nichts dabei verlieren können, nein, dann eher hinzugewinnen.
    Frau Taube", sagte nun der Mann in etwas leiserem Tone und schaute dabei auch zu den anderen die noch immer am Ofen standen. "Wenn Sie irgendwie Hilfe brauchen, können sie mit uns reden. Sie müssen aber verstehen, dass wir nicht öffentlich unsere Begeisterung mit Ihnen teilen werden. Ein kleiner Anlass würde genügen und man ließe Sie hier nicht mehr so gewähren wie bisher. Sie verstehen?"
    "Ja, ich verstehe. Ich bedanke mich für ihre Offenheit", sagte Marie und schaute in die Runde. Ein wenig war ihr die Situation schon unheimlich, aber was sollte sie machen. "So kenne ich nun unsere Möglichkeiten etwas besser, leider. Das Gegenteil von dem was wir erhofft hatten, ist nun eingetreten. Aber gut zu wissen, dass es immer wieder Mutige gibt; denn irgendwann wird es darauf ankommen. -
    Na dann, gehen wir auf den Hof zu den anderen, sonst werden sie nur noch nervöser, weil sie wissen wollen, warum wir hier so lange stehen bleiben."
    Alle schauten nun verwundert auf Marie, aber niemand sagte etwas dazu.
    "Lassen sie mich flink vorgehen, ich möchte meinen Mitstreitern kurz allein die Lage erklären. Wir wollen kein großes Gerede darum machen, heute nicht. Das müssen wir morgen in Ruhe abklären. Auch müssen wir abwarten, wer noch kommt." Marie schaute wieder auf ihre Armanduhr - gleich halb sieben - und dann in Richtung Auffahrt, aber diese blieb leer; immer mehr Hoffnungen schwanden.
    "Wenn wir Pech haben, falls man es so bezeichnen kann, kommt heute keiner mehr."
    Marie besann sich aber sofort ihrer negativen Äußerung, weil es gewiss gegenüber ihren netten Gästen falsch war so zu denken. Ihnen wollte sie nicht den Abend verderben, sonst würden sie den Rest Wohlgesonnener auch noch verlieren; damit hätte man an diesem Abend viel erreicht. Nein, das durften sie nicht zulassen, diese besondere, vielleicht einmalige, Chance, mussten sie nutzen.
    "Ich meine, dass es mir um die vielen geräucherten Fische Leid tut. Sie bringen hoffentlich großen Hunger mit", sagte Marie mutig lächelnd.

    Wie befürchtet, kam zu dem Fest kein weiterer Gast mehr hinzu. Acht Gäste waren gekommen, die der - schließlich an sie weitergereichten - Einladung gefolgt waren. Zusammen mit Anne, Herrn Baumann, Marie und Michel waren sie zwölf Leute, die sich nun einen schönen Abend machten. Es lief letzten Endes zwar anders als gedacht, aber es war ein Anfang. Das Programm zogen sie durch wie geplant, ganz locker und mit viel Freude an der Sache.
    Marie beschloss andere Texte aus den Büchern von Frau Haufe für die Lesung zu nehmen, als sie zuvor ausgewählt hatte. Es sollte einfach eine schöne Feier werden, ohne Druck - stattdessen einer Menge Spaß; denn es war ihr klar, dass die Gäste sich auf nichts einlassen würden. Bei aller Freundlichkeit hatte Marie bei ihnen doch irgendwie den Eindruck, sie würden schneller wieder gehen wollen, als ihr lieb wäre. Und das musste sie heute wirklich nicht mehr haben; denn auch sie wollte jetzt einfach nur unbeschwert feiern und sich mit anderen darüber freuen, was sie bisher hier geschafft hatten. - Außerdem schien für Marie sicher, das ihre Gäste nicht zulange bleiben durften, weil das zu sehr als Wohlwollen ausgelegt werden konnte und sie Nachteile befürchten mussten -
    Aber bald dachte daran keiner mehr, und so wurde es ein fröhlicher und ausgelassener Abend, bei dem man herzlich viel lachte. Erst kurz nach Mitternacht verabschiedeten sich die Gäste; Marie meinte, dass sie ihre Zeit hier gewiss so schnell nicht vergessen werden. Vielleicht war diese Veranstaltung doch nicht vergebens, und sie konnten ihrem Ziel ein Stück näher rücken; wenn auch anders als geplant.
    Nach dem die vier wieder allein waren, saßen sie noch ein Weilchen beieinander und resümierten über den, letztendlich doch noch erfolgreichen Abend. Herr Baumann war besonders stolz auf seinen geräucherten Fisch, da ihn alle hoch gelobt hatten - den köstlichen Fisch. Es war das erste Mal, dass er selbst Fisch räucherte. Und von nun an wollte er jede Woche, oder zumindest einmal im Monat, selbst gefangenen Fisch auf diese Art zubereiten, wie er meinte. Aber das mit dem ‚selbst gefangenen' Fisch wollte ihm keiner so recht abnehmen.
    Etwas machte Marie jedoch nachdenklich, und zwar, als sie über diesen heutigen Tag hinausdachte: sie bekam dabei ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie konnte dieses nicht genau beschreiben, es war einfach nur - unangenehm; an dem Wein den sie getrunken hatten konnte es nicht liegen. Ihr ging es soweit gut, nur wenn sie an das Kommende dachte...


    *


    Die Sonne war bereits weit hoch am Himmel angekommen, als Marie aus ihrem unruhigen Schlaf erwachte. Sie schien geradewegs in ihr Gesicht; mit energischem Eifer wollte diese wohl daran erinnern, dass es an der Zeit war endlich aufzustehen. Mit einem Satz sprang Marie deshalb aus ihrem Bett, lief zum Fenster und schaute - routinemäßig fast wie an jedem Morgen - hinaus auf den Weg der zum Schloss führte. Doch zum ersten Mal beobachtete sie etwas Ungewohntes: Aus dem Hoftor, das bereits weit geöffnet war, sah sie jemanden eilig entschwinden. Dabei war es nicht möglich, diesen zu erkennen. Denn der sonderbare Besucher rannte fast hinaus, schwang sich auf sein Fahrrad und flog damit in Windeseile den Weg in das Dorf hinunter. Das kam ihr im ersten Moment sehr seltsam vor. Aber schon nach wenigen Augenblicken war sie davon überzeugt, dass diese Beobachtung nichts weiter zu bedeuten hatte. Jedoch verharrte sie noch einige Zeit am Fenster, um zu schauen, ob sich eine weitere Auffälligkeit zeigte; doch es tat sich nichts. ‚Na was soll's - ich werde mich jetzt lieber beeilen, das ich endlich hinunter komme', sagte sie bei sich - ‚vielleicht wissen die anderen etwas dazu zu sagen.' Nun schaute sie auf die Uhr: ‚Oh, es ist ja gleich Mittag - nun aber los'.
    Als Marie auf den Hof hinunter kam, war von dem Ereignis des gestrigen Abends nichts mehr zu sehen. Alle Spuren waren beseitigt. ‚Na nu, der Offen ist auch schon in Betrieb', aber sie konnte niemanden sehen. Der Hof schien verweist. ‚Wo waren die anderen?' Sie beschloss daher im Obergeschoss des Schlosses nach ihnen zu suchen. Dort angekommen, klopfte sie an Annes Zimmertür, und bekam ein recht verhaltenes "Herein!" zu hören. Darum trat sie ein wenig vorsichtig ein. Im Türrahmen blieb sie erstaunt stehen. In scheinbar vertrauter Runde saßen da am Tisch Anne, Herr Baumann und Michel, die Marie allesamt mit fragwürdiger Mine betrachteten. Ihr fiel sofort das Blatt Papier, welches Annes in den Händen hielt, auf.
    "Ah, endlich, Marie: wir haben schon auf dich gewartet!", begrüßte Anne sie leicht erregt.
    "Ja, was ist denn los. Ich weiß, ich bin etwas spät dran - entschuldigt, hab' nicht gut geschlafen. Aber irgendwann muss ich doch in einen so tiefen Schlaf gefallen sein, konnte vorhin gar nicht fassen, wie spät es schon ist, tut mir leid. Ihr wart unten ja schon fleißig!"
    "Marie, wir müssen mit dir reden - wir hatten heute schon Besuch", sagte Anne mit besorgter Stimme.
    Nun bemerkte Marie erst, das alle etwas verstimmt waren; und das scheinbar nicht wegen ihr. Sie setzte sich mit an den Tisch und sah Anne fragend an.
    Diese erwiderte den Blick nur stumm und stand auf: "Marie, möchtest du einen Schluck Tee oder Kaffee?"
    "Kaffee würde ich gern trinken. Danke!" - Nachdem Anne den Kaffee in eine Tasse gegossen hatte die bereits auf dem Tisch stand, setzte sie sich wieder an den Tisch und sprach in ruhigem Ton. "Ja, also, es ist heute etwas Merkwürdiges passiert. Ein Mann - ich kenne ihn nicht - war hier und der übergab diesen Brief." Sie schob Marie den Zettel zu, den sie bei ihrem eintreten in der Hand gehalten hatte. "Lies ihn dir in Ruhe durch, vielleicht verstehst du, was man von uns will. Denn wir verstehen es nicht", gab sie ratlos zu.
    Marie wurde es etwas unwohl, musste dabei wieder an gestern Nacht denken und dem flauen Gefühl das sie in der Magengegend verspürt hatte. Sie nahm das Papier und las - zuerst leise, dann las sie es noch einmal laut. Viel stand dort nicht geschrieben. Als sie damit fertig war, blickte sie, den Brief weiter in ihren Händen haltend, jeden kurz in die Augen, und fand darin noch immer pure Ratlosigkeit. Ihr erging es nicht anders.
    Michel wandte sich nun, nach scheinbar endlosen Sekunden der Stille, an Marie: "Was hat das zu bedeuten?"
    Marie sah ihn für einen kurzen Moment verwundert an, überlegte dann aber. In Michels Frage steckte so viel Interesse, das es sie fast irritierte. Aber das brachte sie plötzlich auf eine Idee.
    "Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen machen - es gibt doch für alles eine Lösung. In dem Brief geht es darum, dass sie über unsere Verwendung des Schlosses misstrauisch sind. In der Stadtverwaltung will man erkannt haben, dass wir hier unglaubliches Vorhaben und dies bereitet ihnen Sorgen. Hinzu kommt, dass wir sie vorher nicht darüber informiert haben. Besonders Übel nimmt man uns aber, dass wir ihnen bei der Planung kein Mitspracherecht gaben. Da ich nur Pächter bin, wäre dies meine Pflicht gewesen. Puh, die scheinen echt verstimmt zu sein.
    Nur eines verstehe ich nicht: Warum wurde uns kein Amtlicher Brief zugesandt? So wissen wir nicht wirklich, woran wir sind. Gut, wir müssen ihn auf alle Fälle Ernst nehmen. Vielleicht war er nur als Warnung bestimmt; der nächste Brief könnte anders aussehen.
    Aber trotzdem fühle ich mich bei der Sache nicht ganz wohl. Das man uns so auf die Finger schaut? Anfangs taten sie so, als würde sie das hier absolut nicht interessieren. - Mit dem Fest wollten wir sie doch mit einbeziehen! Dafür haben wir es schließlich gemacht; auf unsere Kosten. Die haben hier Null Aufwand, können aber Nutzen daraus ziehen - für sich und die Gemeinde. Geht es denen einfach nur ums mitbestimmen, ohne jedoch etwas zu Leisten? Oder bereitet es ihnen echt Sorgen, was wir mit dem Schloss treiben?
    Warum sind sie gestern nicht gekommen? Sie konnten sich alles anschauen, und sie hätten die Gelegenheit gehabt mit uns zu reden. -
    Anne, ich glaube wir haben da einen echt dummen Fehler gemacht. Wir hätten, noch bevor wir die Einladungen verschickten, mit ihnen reden sollen."
    "Ja Marie: hätten - haben wir aber nicht. Und wie du schon sagtest: dafür, das sie hier keine Eigenleistung erbringen wollen, verlangen sie sehr viel von uns."
    "Was sagte der Mann, der das hier übergab?", fragte Marie nun.
    Alle schauten sich jetzt etwas verdutzt an.
    "Wir haben uns über den Mann gewundert", meinte nun Willi. "Der wollte sicher unbeobachtet bleiben. Aber Stella bellte sofort drei Mal in Richtung Tor, als sie ihn kommen sah; da wurden wir auf ihn aufmerksam. Ich war gerade im Schuppen beschäftigt und ihr", dabei wies er auf Anne und Michel, "ward ja im Waschhaus. Und nach dem er merkte, dass wir ihn gesehen haben, legte er schnell diesen Brief auf den vordersten Tisch unserer Sitzecke und verschwand wieder."
    "Und das macht die ganze Angelegenheit noch rätselhafter", meinte Anne dazu. "Wir müssen es Ernst nehmen -.
    Vielleicht sollten wir gleich morgen früh in die Stadtverwaltung fahren. Mal sehen, was die zu dem Brief zu sagen haben. Wir brauchen uns nichts vorzuwerfen; das wäre ja noch schöner! Dafür, dass wir hier etwas Tun, will man uns bestrafen?
    Warum die uns das heut zum Sonntag antun? - Michel sag mal, wo wohnst du eigentlich? Ich meine, solange wie du hier bist."
    "Ich werde auch in der Hütte wohnen."
    "Und wie lange bleibst du hier?"
    Michel blickte wieder fragend zu Herrn Baumann; mit dem gleichen verlegen wirkenden Ausdruck im Gesicht, wie bei ihrer ersten Begegnung - wo sie ihn schon einmal danach gefragt hatten. "Sag es ihnen selbst", sagte dieser leise zu Michel.
    Dieser zögerte noch einen Moment, und man merkte, das er versuchte sich gedanklich zu sammeln: "Nun, ich würde… gern hier bleiben. Nach Hause möchte ich nicht mehr. Meine Eltern…", er brach den Satz ab, blickte zum Fenster, dann zu Herrn Baumann. Dieser jedoch senkte den Kopf und schwieg.
    "Sie hatten…vor einiger Zeit…einen tödlichen Autounfall; sie kamen dabei beide ums Leben", brach es unsicher aus ihm heraus. Michel war nicht mehr wieder zu erkennen. Aber er schien auch ein wenig erleichtert zu sein, es sagen - aussprechen zu können. Nach kurzem Schweigen, in dem man geduldig, geschockt - in mitfühlender Weise- abwartete. Willi saß noch immer mit gesenktem Blick da. Schließlich redete der junge Mann weiter.
    "Ich dachte, ich kann bei Willi bleiben", wandte er sich damit an Herrn Baumann - und dieses Mal klang das entschieden entschlossener.
    "Hier könnte ich mir gut vorstellen, ein neues Leben zu beginnen, aus meinem alten will ich raus; um nicht ständig erinnert zu werden - was nicht zu ändern ist. Ich würde sonst vielleicht noch verrückt werden, weil… ich das alles nicht verstehen kann. Es lief alles so wunderbar…ich war glücklich. Plötzlich hat sich alles verändert. Und ich fand nichts mehr, was mir Halt hätte geben können. So, als wäre mit meinen Eltern, auch mein Sinn ausgelöscht wurden. - Es war ein absolut sinnloser Tod. Verursacht von einem Menschen, der anscheinend sein und vor allem das Leben anderer, nicht zu achten wusste. Mit Unachtsamkeit oder einfach einen schlechten Tag gehabt zu haben, hatte das nichts zu tun. Nein. Meine Eltern starben einen rücksichtslosen Tod, so was lässt den Schmerz nicht verstummen."
    Michel schwieg. Stumm fixierte er scheinbar das Muster der Tischdecke. Die anderen suchten vergebens nach Worten: die ihn trösten und zugleich auch helfen sollten, für diesen Moment seinen Schmerz etwas zu lindern.
    Nein, dafür aber gab es keine Worte - die den Schmerz erfassen und ziehen lassen können; es wird einfach seine Zeit brauchen. Doch das Schicksal hatte ihn an einen guten Ort geführt. Der sein Leben nicht einfacher werden lässt, aber einen neuen, tieferen Sinn zu geben hatte. -
    "Ja, Michel, wir würden uns freuen, wenn du hier bleibst. Wir wollen dir helfen, nicht den Schmerz zu vergessen, denn das vermag keiner, sondern dein Leben neu zu gestalten. Vor allem Herr… Willi?", in Maries Gedächtnis hatte sich dieser Name wohl sofort eingeschlichen. "Sie heißen also Willi, Willi Baumann? Der Name passt gut, sehr gut."
    "Na, na. Aber ja, so ist es. Nun werde ich es sowieso nicht mehr leugnen können. Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt, entschuldigen Sie!" Dabei stand er auf, tat so, als hätte er einen Hut auf - den er mit einer vorgetäuschten Geste jetzt abnahm: "Darf ich mich Ihnen vorstellen, meine Damen: Wilhelm Baumann - oder auch Willi, für gute Freunde."
    Die anderen antworteten ihm mit einem Grinsen. Frau Haufe ließ es sich aber nicht nehmen, noch etwas hinzuzusetzen: "Also dürfen wir dich ab heute Willi nennen?"
    "Ja, ich bitte sogar darum."
    Herr Baumann, der noch immer am Tisch stand, stellte nun unzufrieden fest: "Gut und schön, jetzt habe ich mich endlich richtig vorgestellt, aber was ist mit Ihnen, pardon: Euch beiden?"
    "Gut, dann mach ich gleich weiter: Mein Name ist Marie Taube; genauso wie die Taube auf dem Dach!"
    "Ach so? Na, da hast du dir was eingehandelt - Spaß. Weil, mir fällt gerade dazu ein: Lieber den Spatz in der Hand, als eine Taube auf dem Dach. Möchtest du in deinem Leben hoch oder auch weit hinaus, Marie?" Willi schaute Marie nun sehr eindringlich an: "Was für eine Frage: In deinem Namen steckt die Antwort ja schon drin. Na, dann wird es mit dem Schloss schon werden; das meine ich jetzt ernstlich. - Aber wenn ich ein Stückchen weiter denke, könnte es auch bedeuten…das du vielleicht noch höher - ach entschuldige, das war jetzt quatsch." Nachdem Willi schwieg, schauten die anderen erst ein wenig verwirrt auf ihn, dann auf Marie. Die wiederum schien schnell den Sinn begriffen zu haben. "Ach Willi, was sollte ich denn noch mehr wollen?"
    "Die Wege des Schicksals sind unergründlich, liebes Mädchen, das wirst du…"
    "Ich glaube, das ist heute kein Thema für uns - und wird es auch nicht morgen sein.
    Verwirr sie doch nicht so, Willi. Im Moment haben wir hier mehr als genug zu tun. Und Marie ist gewiss niemand, die sich einfach auf und davon macht, nur weil ihr gerade danach ist. OK!
    So, nun bin ich gespannt, was dir zu meinem Namen einfällt, lieber Willi - aber ich schätze mal nicht viel. Ich bin die Anne, Anne Haufe!"
    "Dazu fällt mir wirklich nichts ein. Ich bin sprachlos -; oder vielleicht, na ja, der Name vermittelt - ich glaube viel Kreativität. Wenn ich mich recht erinnere, waren einige - im Sinn ähnelnde - Namensvetter von dir sehr phantasiereich."
    "Dies kommentiere ich vorläufig lieber nicht, das wäre auch für mich etwas neu. - Aber warum nicht, wenn ich genauer darüber nachdenke: hm, sehr interessant."
    Jetzt schauten alle zu Michel. Dieser aber kuckte ahnungslos und Schulter zuckend umher, schien sich zu wundern, was man von ihm noch wollte.
    Marie sagte: "Deinen vollen Namen möchten wir gern wissen. Wenn wir schon mal dabei sind - noch mal machen wir so eine Zeremonie nicht. Sie kommt vielleicht ein bisschen spät - hatte sich wahrscheinlich nie so angeboten wie heute.
    Nun sind wir komplett, denke ich. Ein Glückskleeblatt? Ja, warum nicht; die Zeit wird es zeigen."
    "Oder wie die vier Musketiere: Einer für alle, alle für einen. Und weil die Geschichte ursprünglich nur drei Helden kennt, könnte auch für uns einmal der Tag kommen, wo wir Einen ziehen lassen müssen. Der jedoch immer ein Teil dieses Glückskleeblattes bleiben soll", kommentierte Michel. - "Ja, es müssen immer wieder welche gehen, damit Neues entstehen kann.
    Na gut. Also meine Damen, dann möchte ich mich ebenfalls vorstellen: Michel Baumann! Ja, ich heiße auch Baumann."
    "Das hätten wir uns auch irgendwie denken können. Jedenfalls wissen wir es jetzt genau. Und nun sollten wir das ganze noch ein wenig feierlich umrahmen." Anne blickte belustigt in die verwunderten Gesichter.
    "Ja, Anne, aber zuvor möchte ich noch etwas sagen", verkündete Michel bedeutend. "Da ich nun hier bleiben kann, würde ich auch hier studieren wollen. Nächste Woche kümmere ich mich gleich darum. Wäre schön, wenn ich gleich nach den Ferien damit loslegen könnte. Auch dachte ich eventuell daran, ein Zimmer auf dem Schloss zu bewohnen. -
    Sag mal Willi, sollten wir nicht zusammen hier einziehen? Die Hütte können wir trotzdem behalten, als Aussteigerdomizil."
    "Ja, wie die Sache im Moment aussieht, ist es wohl das Beste. Damit zeigen wir denen am deutlichsten, was wirklich zählt - Teamgeist. Genau das ist es ja auch, was wir mit dem Schloss bezwecken wollen: einfach füreinander da sein - aus der Not heraus eine Tugend machen. Außerdem können wir die Frauen doch nicht allein lassen, hier in dem großen Schloss! Oder Michel?"
    Nachdem Willi das ausgesprochen hatte, unterstrich er diesen zweideutigen Satz durch eine eindeutige Geste: mit dem Zeigefinger schob er die Haut unterhalb seines Auges etwas nach unten und senkte dabei den Kopf.
    "Ja, aber Hallo, Willi, so kenn ich dich ja gar nicht. Du wirst doch nicht zum Frauenheld?" Sagte Michel scherzhaft.
    "Du kennst mich auch nicht. Aber lass mal, ich versuch gerade mich selbst wieder zu finden."
    "Der war jetzt gut. Ich kenn dich erst seit zwei Tagen, aber nachdem was ich von meiner Familie gehört habe: da fiel das Wort Eigenbrödler, wenn man über dich sprach, sehr häufig. Also muss dein anderes Leben schon sehr lange zurück liegen. Auf alle Fälle bin ich froh, dass du ganz normal zu sein scheinst. Auch freue ich mich auf diese neue Familie. - Man kann es doch so nennen?" Er zeigte nun wieder sein zauberhaftes Lächeln.
    Marie hatte Michel, während er sprach, genauer beobachtet. Ihr wurde er immer sympathischer. "Ja", sagte sie nun, "wir sind wie eine Familie - und mehr. Zwar kennen wir uns noch nicht so lange, aber ich denke, wir passen gut zueinander. Genau das war vorhin auch meine Idee, dass ihr beide hier einzieht."
    Michel blickte Marie jetzt mit seinen großen dunkelbraunen Augen tief in die ihrigen. So, als versuche er dort etwas zu finden, was sie nach außen zu verstecken suchte oder hatte sie…; puh, was sollte sie denn davon halten. Begannen hier etwa schon die Funken zu sprühen? Ihr wurde ganz heiß und sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was hatte sie auch für ein Quatsch geredet, man hätte meinen können sie.... "Wir sollten schnell handeln", sagte Marie besonnen. "Das ist vielleicht die Chance, dass man uns hier in Ruhe gewähren lässt. Und wir wissen jetzt, was wir nicht tun sollten."
    "Wissen wir das jetzt wirklich?", fragte Anne und blickte dabei in die Runde. "Aber bevor wir immer wieder weiterreden, will ich endlich meinen Vorschlag loswerden, wie wir die Gründung unserer neuen Familie gebührenvoll begrüßen. Ich dachte daran, jetzt gleich mit einem Schlückchen von meinem selbst gemachten Eierlikör anzustoßen. Hat jemand was dagegen einzuwenden?"
    Die anderen drei schüttelten die Köpfe. Warum auch. Annes bestimmter Tonfall war viel zu überzeugend, als über eine andere Möglichkeit nachzudenken.
    "Nein? - Gut, dann gehe ich ihn gleich holen. Marie, nimmst du mal bitte die Gläser aus dem Schrank!"

    Alle saßen nun am Tisch und jeder hatte ein Gläschen Eierlikör in der Hand. Gewichtig hoben sie diese, wie Willi es vormachte, in die Höhe. Anne übernahm sogleich das Wort: "Lasst uns auf eine erfolgreiche Zukunft anstoßen, für jeden einzelnen, und für das gemeinsame Ziel. Prost!" Während Anne und Willi mit einem Zug ihre Gläser leerten, brauchten Marie und Michel mindestens drei. - Auf einen stillen Beobachter wirkte die Zeremonie gewiss wie eine Verschwörung. Zum einen schien ein Hauch von Nervosität und Unruhe in der Luft zu schweben, andererseits gaben die Gesichter der Vier eine gesegnete Zuversicht preis, die von einem glücklich beseelten Vertrauen umschlossen wurde.
    "So", sprach Anne, nachdem die Gläser geleert vor ihnen standen, "damit wäre das auch geklärt. Nun müssen wir festlegen, wann ihr hier einzieht und was dafür noch getan werden muss damit ihr einziehen könnt. Ein Zimmer ist bezugsfertig. Da es recht groß ist, würde es für den Anfang ausreichen, dass ihr beide dort vorläufig wohnt. In der Hütte hättet ihr auch nicht mehr Platz.
    Außerdem glaube ich nicht, dass es sinnvoll ist, wenn Willi jetzt noch im Wald alleine bliebe. Und hier gibt es im Moment viel zu tun; abends können wir dann gemeinsam unseren arbeitsreichen Tag beenden - in geselliger Runde. Ihr werdet nur zum schlafen in dem Zimmer verweilen müssen. Frühstück gibt es bei mir in der Küche. Ja, nebenbei werden wir mit der Renovierung eines weiteren Zimmers beginnen!"
    Michel schien beeindruckt von Annes praktischer und vor allem direkten Art an die Dinge heranzugehen: "Von mir aus kann es morgen losgehen", meinte er sogleich.
    "Gut, dann werde ich vielleicht morgen schon einmal versuchen, einen kleinen LKW zu bekommen. - Ach herrje, so ein hin und her; aber so langsam haben wir es, denke ich.
    Wir könnten ihn dann auch für den Transport von Materialen benutzen, die wir zur Renovierung des weiteren Zimmers brauchen." Sagte nun Willi, der nach anfänglichem Zögern jetzt keine Bedenken mehr zu haben schien. - "Und wenn es mit dem Schloss doch nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, so haben wir immer noch die Hütte. Dann bauen wir uns eben die aus.
    Bei einer Sache habe ich noch so meine Zweifel: Was, wenn die Stadt uns aus dem Schloss wirft, weil sie es selber nutzen möchte?"
    "Keine Bange, so einfach dürfen die uns nicht auf die Straße setzen. Ich habe einen Vertrag über fünf Jahre und es steht mir frei, wer hier einziehen kann. Wir sollten halt nur beachten, wie viel es sich lohnt, hier zu investieren. - Ja, da wäre vielleicht noch etwas: bisher brauchte ich nichts für die Benutzung zu bezahlen. Es könnte sein das man darauf spekuliert: eine Art Miete zu verlangen. Wenn es nicht zu viel ist, finde ich es gerechtfertigt. - Sollten wir von uns aus einen Vorschlag dazu machen?"
    "Das ist jetzt gar nicht so einfach zu sagen. Warum überhaupt etwas zahlen, wenn hier doch investiert wird?", erwiderte Willi skeptisch.
    Nach einigem überlegen sagte Anne dazu: "Das wir hier wohnen und investieren, ist unsere Angelegenheit. Keiner verlangt das. Dafür, dass wir Grund und Boden nutzen, sollte auch bezahlt werden. Sonst könnte ja jeder kommen. Für die Stadt ist es wichtig wirtschaftlich zu denken; und damit umgehen können. - Da sollten wir aufpassen.
    Gewiss muss neu verhandelt werden; du bis nicht mehr allein, Marie! Das bringt größere Pflichten mit sich, aber auch mehr Schultern, um sie zu verteilen. Außerdem ergeben sich daraus mehr Rechte für uns, wir müssen sie nur zu nutzen wissen. Zusammen können wir darüber nachdenken, wie wir es am besten machen. Nicht, das wir irgendwann enttäuscht feststellen: mehr investiert zu haben, als uns gut tat.
    Ehrlich, ich will in meinem Leben nicht immer wieder zu dem Schluss kommen: ‚Tolle Erfahrung! -; doch was nutzt die am Ende, wenn man hinterher wieder der Dumme ist'. Gerade für euch Jugend, ist Erfahrung wichtig, ihr sollt aber auch sehen, wo sie hinführt. Etwa nach dem Motto: möge die Arbeit stets solche Früchte tragen, die süß und saftig und nicht bitter schmecken. - Ja, ich denke, diese Darstellung ist korrekt. Oder Willi?"
    "Sicher, sicher, so sollte es sein", erwiderte dieser. "Doch gibt es genügend Beispiele, wo sich gute Arbeit erst nach Jahren auszahlt. Für uns Alten ist es nicht mehr so wichtig, aber ihr habt noch viel vor euch. Wir zwei, Anne und ich, könnten uns einen ruhigen Lebensabend gönnen, wenn wir wollten. Warum tun wir es nicht? Weil wir nicht dumm sind, nicht Anne? Es gibt noch viel…viel zu tun für uns. Es besteht kein Grund, das Handtuch zu werfen - solange man gebraucht wird.
    Vielleicht wird dies sogar unsere größte Herausforderung im Leben - aber gewiss die letzte. Da sieht man es mal wieder: es hört nie auf, Verantwortung zu zeigen und mit zu tragen. Und das fühlt sich gut an. Na, und ‚a bissel' Risiko gehört halt dazu - die uns ein wenig das Fürchten lehrt. Bei aller Euphorie für die Sache, doch auch das braucht einen zuverlässigen Begleiter. - Ja, Anne, wir sollten gut überlegen, was wir als nächstes tun.
    Und ihr beiden, Marie und Michel, ihr müsst uns versprechen, falls es länger dauert hier als uns an Zeit zur Verfügung steht, für ein ehrenvolles Gedenken zu sorgen. Eine kleine Tafel mit unseren Namen drauf, ein kleines eingerichtetes Zimmer im Schloss, das an unser Wirken…"
    "Ja, ja Willi, und so weiter, daran möchte ich jetzt aber noch nicht denken. Wir haben hier noch so viel, wie du schon sagtest, zu tun." Kommentierte Anne belustigt.
    "Ach ihr beiden, was würden wir nur ohne euch machen. Gut, das es noch Menschen mit dem Herz am rechten Fleck wie euch gibt, und die sich das über das ganze schwere, vor allem wechselvolle Leben bewahrt, hinübergerettet haben." Marie schien sichtlich bewegt, als sie das sagte.
    "Dem ist gewiss nichts hinzuzufügen, ja, und wir danken euch für das was ihr bereits getan habt, und, noch tun werdet", meinte auch Michel, dem die Wendung ihres Gespräches, sichtlich nahe ging. -
    "Gut, und ich habe mir noch folgendes überlegt. Ich meine, wir sollten heute keine Entscheidung bezüglich des anonymen Briefes fällen, sondern jeder denkt einfach für sich über das ganze in Ruhe nach. Und morgen früh werden wir sehen, was dabei herausgekommen ist. Ok?" Anne platzte zwar scheinbar damit regelrecht in die herzliche Stimmung, aber wenn man sie ein wenig kannte, war dieser Entschluss ein Resultat dessen. Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht ohne eine Entscheidung hier und jetzt nicht vom Tisch aufgestanden.

    *

    Den restlichen Tag nahmen sich die Vier nichts weiter vor. Sie wollten diesen Sonntag heute, jeder für sich, einfach mal genießen. Nur zum Essen kamen alle wieder auf dem Hof zusammen. Willi hatte zu Mittag noch mal Fische geräuchert, auch am Abend wollten sie davon essen. Sie würden wohl den Rest des Sommers mit Fisch Vorlieb nehmen müssen, so viel hatten sie davon. Aber zum Glück war der vom Tag zuvor alle geworden, was auch dem Umstand zu verdanken war, das ihnen nicht viel Zeit dazu geblieben ist auf Vorrat zu räuchern. -
    Nach der gemeinsamen Abendmahlzeit blieben sie noch einige Zeit sitzen und redeten über dies und das. Alle waren sie auf den morgigen Tag gespannt, was er ihnen an Neuigkeiten bringen würde. Auch einigten sie sich, oder vielmehr beruhigten sie sich gegenseitig, dass sie nichts zu befürchteten hatten.
    Bei aller Sorge um ihr gerade gemachtes Nest, vergas Anne nicht die anderen wichtigen Dinge: "Du Michel, was willst du eigentlich studieren?"
    "Geschichte und Philosophie wäre mein Wunsch. Wenn ich mich an der Uni dafür einschreiben könnte - das wäre toll."
    "Wird schon werden - sind aber sehr schwierige Fächer, die du dir da ausgesucht hast. Wenn dich das wirklich interessiert, warum nicht. Das wird Marie freuen. Sie hätte sicher das gleiche studiert, wenn sie in der Schule etwas fleißiger gewesen wäre! Oder?"
    "Fleißiger? Na ja, oder Anpassungsfähiger. Vielleicht habe ich damals nicht konsequent genug für meine Ziele gekämpft. Andererseits denke ich, nicht viel verpasst zu haben - und aus Fehlern kann man lernen. Meine Hoffnung wächst täglich: zur rechten Zeit auch das Richtige zu finden. Im Leben gibt es halt immer wieder Hürden, die nicht alle auf Anhieb genommen werden können. Das kann uns schützen.
    Früh geübt, ist halb gewonnen: Genügend Übung in Flexibilität, könnte sich in der Mitte des Weges auszahlen", sagte Marie mit einer für sie noch ungewohnten Gewissheit.
    Ich hätte gern im Ausland studiert. Denn was hier vermittelt wird, ist mir zu einseitig. Ich habe ein paar Freunde an der Uni die studieren das gleiche. Sie meinen: ‚Besser als nichts!' - Ich könnte ja mal bei ihnen wegen einem Studienplatz nachfragen, vielleicht hilft das was - Beziehungen sind hier sehr wichtig, erleichtert einiges -; aber sicher ist das überall auf der Welt so. Wenn sie ein gutes Wort für dich einlegen, geht es sicher schneller. Zumindest könnten sie sich erst einmal umhorchen.
    Wie sind deine Noten? Sind sie gut bis sehr gut, gehst du bestimmt ohne Probleme allein durch. Na ja, und deine Einstellung muss stimmen."
    "Einstellung?"
    "Na sie wollen hier niemand, der ihr System durcheinander bringt, da kannst du noch so gut sein, das hilft dir hier wenig. Du hast das ja schon mitbekommen wie es mit dem Schloss läuft."
    "Hui, deine Freunde werden mir wohl einige Tipps geben müssen. Also mein Abitur habe ich soweit ganz gut hinbekommen, nach euerm Notensystem - eins, sehr gut und fünf, durchgefallen - habe ich einen Durchschnitt von 1,5. Reicht das? Wenn ich hier studieren könnte und dann noch in meinen Wahlfächern, bin ich schon zufrieden."
    "Es würde uns sehr freuen, wenn du bleibst, Michel! Wir werden aber auch akzeptieren, wenn du wegen des Studiums weg müsstest; schließlich geht das vor", sagte Anne.
    "Ich habe einige Bücher mitgebracht, diese werde ich mir im Selbststudium erarbeiten. Auch wenn ich einen Platz bekomme, ist es besser, sich zusätzlich seine eigene Meinung zu bilden. Wird das nichts mit einem Studium jetzt, weil zum Beispiel meine ‚Einstellung' nicht stimmt, nehme ich eine Auszeit. Wichtig ist mir die Praxis - in der ich mit interessanten, vor allem mit vielen verschiedenen Menschen zusammen kommen kann. Um so vielfältige Erfahrungen zu sammeln."
    "Ja, die Praxis sollte zu keiner Zeit vernachlässigt werden, auch während des Studiums nicht, mein Junge; gut, gut, ich sehe, du machst das schon", erwiderte Willi, worauf die anderen zustimmend mit ihren Köpfen nickten. Marie meinte schließlich nachdenklich: "Ja, jeder hat da so seinen eigenen Weg."
    "Marie, es gibt immer viele Wege, und jeder muss seinen eigenen wählen. Niemand kann für den anderen den Weg bestimmen, weil dieser gefunden werden will. Und wer von Menschen ein bisschen Ahnung hat kann erkennen, wann einer seinen Weg geht."
    "Meine ich auch, Michel. Aber was ist mit denen, die den falschen Weg gehen, also nicht den eigenen?"
    "Puh, ich glaube, um das herauszufinden, studiere ich Philosophie."
    "Aha, na dann viel Spaß…"

    Der nächste Morgen kam für Marie schneller, als ihr recht und lieb war. Eigentlich wollten sie gleich früh in die Stadt fahren, aber sie war sich deswegen nicht mehr so sicher. Das Beste würde sein, erst nach dem Frühstück zu entscheiden, was in dieser Situation letztendlich getan werden sollte, dachte sie schließlich.
    Denn sie hatten gestern Abend gemeinsam doch noch einen Entschluss gefasst, und dieser besagte: Montag, gegen neun Uhr dreißig, geschlossener Abflug in Richtung Stadtverwaltung -; um eine Klärung der weiteren Vorgehensweise - auf beiden Seiten - herbeizuführen. -
    Das gemeinsame Essen, besonders am Morgen, war für Marie im Moment die Leuchttürme des Tages. Denn hier konnten sie alles Wichtige aktuell bereden. - Willi und Michel haben, wie bereits die Nacht zuvor, hier im Schloss geschlafen. Punkt 7.30 Uhr wollten sie sich bei Anne zum Frühstück treffen, dazu standen alle drei zufällig fünf vor, an deren Zimmertür.
    Marie wollte gerade als erstes hineingehen, da bemerkte sie die Blumen in Willis Hand: "He, das ist ja eine gute Idee; das macht den Morgen noch mal so schön."
    Willi schaute etwas verlegen auf die Blumen, antwortete dann aber recht selbstbewusst: "Ich wollte Anne eine Freude machen, da sie uns ja so nett zum Frühstück einlädt. Wir würden ihr beim Tisch eindecken gern behilflich sein, aber sie will es ja nicht. Sie möchte uns jeden Morgen damit überraschen, sagt sie. Aber wenigstens können wir ihr dann beim abräumen und abwaschen helfen. Für mich ist es sehr ungewohnt - besonders zum Frühstück - bemuttert zu werden. Ach ja. Hoffentlich bleibt uns das recht lang erhalten. Man gewöhnt sich sehr leicht daran."
    "Ja!", äußerte Marie lächelnd, "an so was kann man sich gut gewöhnen."
    Als Maries Blick bei Michel ankam, erkundigte er sich höflich nach ihrem Wohlbefinden und ob sie gut geschlafen habe. Marie bejahte höflich und versicherte sich ebenfalls darüber bei den beiden.
    "Na, dann wollen wir mal reingehen", meinte Willi und griff zur Türklinke.
    In dem Moment ging die Tür auf: "Einen schönen guten Morgen! Ihr traut euch wohl nicht hinein? Ich höre euch schon ne Weile vor der Tür schwatzen. Na, dann kommt mal, ich habe schon alles fertig!"
    Nun bemerkte sie die Blumen in Willis Hand und hatte nur noch Augen für ihn.
    "Guten Morgen, Anne. Bitte!" Damit überreichte er ihr die Blumen.
    "Danke Willi! Mal sehen, ob wir auf dem Tisch dafür Platz haben." Damit wandte sie sich um, und fand scheinbar auf dem reichlich bestückten Tisch noch ein Plätzchen. "Ja! Na, dann hole ich erst mal eine Vase -; und ihr setzt euch derweil!" -
    "Schön hast du das gemacht, Anne", sagte Willi, als alle am Tisch saßen. "Es ist ja alles da. Äh, hast du die Brötchen etwa frisch vom Becker geholt?"
    "Ja, und diese morgendliche Spazierfahrt tut richtig gut."
    "Ah, das glaube ich gern; wir können uns beim holen auch abwechseln, Anne", erwiderte Willi - Marie und Michel nickten zustimmend.
    "Jeden Morgen werden wir sicher keine Brötchen holen. Entweder backe ich welche auf oder wir essen halt frisches - selbstgebackenes - Brot. Ich brauche nicht immer Brötchen zum Frühstück. Ihr?"
    "Nein, brauche ich auch nicht", erwiderte Marie. Auch die anderen verneinten. Aber Anne setzte jetzt, mit Blick auf Michel noch hinzu: "Wir können das ja Abends besprechen.
    So, nun lasst es euch schmecken."

    *

    Nach dem Frühstück begann Marie den Tisch abzuräumen; Michel half ihr. Anne meinte, sie sollten es einfach auf den Spülschrank stellen, sie wolle nachher in Ruhe alles wegräumen.
    "Wir werden jetzt noch mal den Tagesablauf besprechen", und damit war Anne wieder in ihrem Element - organisieren. "So sicher waren wir uns gestern ja nun doch nicht, oder? Aber auf alle Fälle haben wir heute einiges vor uns.
    Gut. Willi, du kümmerst dich sicher um den Transporter. Ich werde im laufe des Tages in dem Zimmer wo ihr einziehen werdet gründlich saubermachen.
    Ihr Männer schaut euch als erstes in Michels neuem Quartier noch einmal gründlich um. Falls ihr den Transporter heute schon bekommt, könnt ihr sofort einkaufen. Da habt ihr keine unnützen Wege. Oder? Und Michel kommt so schneller zu etwas eigenem."
    "Anne, was ist eigentlich mit unserer gemeinsamen Fahrt in die Stadt?"
    Anne blickte Marie für ein paar Sekunden nachdenklich an. Dann sagte sie zögerlich: "Ich bin mir nicht mehr so sicher - ob es das Richtige ist, was wir da tun wollen. Vielleicht wissen die noch gar nichts? Oder es steckt etwas ganz anderes dahinter. Heute früh habe ich mir überlegt, dass es zu unserem Nachteil werden könnte, wenn wir zu schnell reagieren. Die lachen sich vielleicht allesamt ins Fäustchen, weil wir ihnen damit gezeigt haben, wie leicht wir zu beunruhigen sind. Es kann sein, das sie genau das erreichen wollten, und nur das.
    Weil keiner von denen am Samstag gekommen ist, muss es nicht heißen, dass sie unser Tun missbilligen. Vielleicht wollen sie es uns einfach nicht zu leicht machen; oder jemand dort stiftet halt gern ein wenig Unfrieden.
    Wir könnten zuvor mit diesem einen Mann, der am Samstagabend hier war und einen recht verlässlichen Eindruck gemacht hat, sprechen. Jener, der meinte, er würde uns bei Problemen gern helfen. Er hat eventuell einige Informationen über die Sache und kann dazu was sagen.
    Ich denke wirklich, wir sollten nichts überstürzen. Wir haben doch hier nichts zu verbergen. Würden wir jetzt unruhig werden, könnte es eher zu Missverständnissen kommen."
    "Ich weiß nicht, Anne", sagte Marie; "mich macht es schon unruhig. Ich weiß aber auch nicht, wie wir am klügsten darauf reagieren sollen. Es stimmt: wir tun hier nichts unrechtes, oder etwas, was jemanden Schaden könnte.
    Mm, tja - mal überlegen…hm... - ach, ich glaube, Anne, wir verlassen uns am besten einfach auf dich; du wirst in dem Fall das sichere Händchen haben - sage ich jetzt mal so.
    Es könnte gewiss nicht schaden, wenn wir mit dem Mann reden, so unter uns, ohne die anderen. Jedoch müssen wir - zumindest anfänglich - vorsichtig sein. Wir kennen ihn nicht!"
    "Ja, Marie, und deshalb wirst du das machen. Ich denke, dafür hast du das bessere Händchen - sozusagen."
    "Das verstehe ich nun nicht ganz", erwiderte Marie verwundert.
    Jetzt meldete sich Willi zu Wort: "Ja, ich glaube auch, wir sollten es so machen wie Anne gesagt hat. - Weiß jemand, wo wir den Mann finden können?"
    "Ich! Er hat hier in der Nähe des Schlosses, seinen Garten. Ein bisschen hat er mir beschrieben wo. Und weiter sagte er mir, dass er ab heute einige Tage Urlaub hat und ihn dort verbringt."
    "Marie, da haben wir es. Er hat dir gesagt, wo du ihn finden kannst. Urlaub hat er auch noch; na da kannst du doch heute Vormittag gleich hingehen.
    Genau, ich würde sagen, es ist ein Versuch wert. Oder was sagt ihr? Marie?"
    "Was soll ich sagen…", unschlüssig schaute sie auf Willi, dieser nickte zustimmend, dann auf Michel. Auch er fand die Idee anscheinend gut, wie seiner Gestik zu entnehmen war. "Na ja, dann ist es wohl…
    Aber gleich heute Vormittag?" Marie fühlte sich etwas überrumpelt.
    "Marie, versuch es. Und warum wichtige Zeit verschenken. Vielleicht…nein, bestimmt sogar, ist jetzt ein guter Zeitpunkt dafür. Man soll das Eisen schmieden, solang es noch heiß ist", meinte Anne in fester Überzeugung.
    "Das sagte mein Vater auch gern; muss also was dran sein", sinnierte Michel, und versuchte anschließend Marie mit optimistischem Blick aufzumuntern.
    Da fiel ihr nun wirklich nichts mehr dagegen ein. "Gut, ich tu es - will es versuchen. Muss ich wirklich allein gehen? Michel, könntest du…", Marie schwieg, blickte ihn fragend an.
    "Ich weiß nicht so recht", meinte dieser unschlüssig, schaute nun auf Anne.
    "Müsst ihr wissen… - wenn Michel möchte, warum nicht. Aber ich denke, es ist besser wenn du allein gehst, Marie. Oder wolltest du Michel als Beschützer?"
    "Ja…dann komme ich natürlich mit…"
    "Ach lass mal, ich geh allein. Ich muss…- es muss wohl so sein." Der Gedanke, mit Michel zusammen zu diesem Mann zu gehen, gefiel ihr. Doch sie sah ein, dass es der Sache wenig nützen würde.
    "Marie, wenn du in einer Stunde nicht wieder da bis, geh ich dich suchen, versprochen."
    "Aber Michel, du weißt doch gar nicht…"
    "Doch, weiß ich, hab euch an dem Abend zugehört. Als er beschrieben hat, wo sein Garten ist, habe ich besonders gut zugehört."
    Verblüfft schaute Marie auf den jungen Mann. "Ja, dann…gut", blieb ihr nur noch zu sagen.
    "Willi, guckst du dann gleich mal mit in Michels Zimmer?"
    "Ja, Chefin. Wir fangen gleich an."
    "Toll! - Ach Marie, wann könntest du mit deinen Freunden sprechen, wegen Michels Studium?"
    Marie überlegte kurz, dann sagte sie: "Ich werde gleich einen Brief schreiben.
    Aber ich muss euch noch etwas sagen: es geht um den Bund, dem ich angehöre. Für den Anfang will ich noch nicht zu viel erzählen, doch etwas solltet ihr schon darüber wissen.
    Mir ist gerade eingefallen, dass wir in den Ferien uns noch einmal treffen wollten - hier auf dem Schloss. In der ganzen Aufregung der letzten Wochen, hatte ich es fast vergessen. Hoffentlich klappt das noch. - Ich denke, dieses Wochenende wäre ideal, um eine Zusammenkunft zu organisieren; vor allem könnten wir so auch gleich unseren Vorrat an Fisch minimieren.
    Entschuldigt, dass ich bisher nichts von meinem Bund erzählt habe. Ich muss mich auch erst daran gewöhnen, das wir jetzt gemeinsam planen."
    Die anderen drei schauten sie etwas vergeistert an und warteten nun gespannt, auf das was nun folgen würde.
    "Wir sind 16 Mitglieder...- ach nein, wir sind ja jetzt mehr. Wie ich gehört habe, sind noch einige neu hinzugekommen. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn wir uns hier treffen?"
    "Ja, von mir aus. Was du da sagst, hört sich aber sehr geheimnisvoll an. Es ist doch nichts Verbotenes? Das könnten wir jetzt wirklich schlecht gebrauchen, Marie." Mit diesen Worten schaute Anne etwas besorgt auf Marie.
    "Nein, ganz und gar nicht. Ich muss auch ehrlich gestehen, dass wir uns noch nicht auf eine Richtung geeinigt haben; die Frage nach einer bewussten Zielsetzung ist noch immer offen. Jetzt kann ich es ja sagen: Wir nennen uns die "Utopisten?", mit Fragezeichen. Mit diesem Namen wollen wir zum Ausdruck bringen, dass wir uns einfach mit der Zukunft beschäftigen; aber das ist alles noch in der Experimentierphase. Vielleicht kommt mit den Neuen frischer Wind in unsere Gruppe. Wir hatten eigentlich vor, eine Zeitung in diesem Jahr herauszubringen, aber dies wurde vorerst verschoben.
    Da wir uns alle sehr für Geschichte interessieren", dabei ging ihr Blick flüchtig zu Michel, "ist uns auch klar, dass mit geheimen Verbindungen vorsichtig umgegangen werden muss. Kritisieren lässt sich bekanntlich leicht, aber realisierbare Vorschläge zur Veränderung einzubringen, das erfordert Erfahrung. Dazu kommt: das Misstrauen, welches den Geheimbünden stets entgegengebracht wurde - gewiss, einige negative Erfahrungen mit ihnen, macht sie daran nicht schuldlos. Sich aber damit zu beschäftigen, ist ein Anfang! Schließlich trägt Verbotenes oft die besten Früchte - zumindest, wenn die Veränderung zum positiven hin läuft.
    Unsere Hauptthemen sind die Bereiche Soziologie, Wissenschaft und Technik. Und was wir dazu aus den verschiedenen geschichtlichen Epochen lernen können und - wo uns diese noch hinführen werden. Daraus entwickeln wir unsere Vorstellungen für Verbesserungen. -
    Na ja, einige von uns haben Kontakte zu Personen, die sich zu Kritikern unseres Systems zählen; aber dadurch erfahren wir auch etwas mehr über die andere Seite. Was man da so hört, macht sehr nachdenklich. Aber wir sind, wie schon gesagt, der Meinung: kritisieren ist einfach, Bessermachen dagegen sehr schwer. Jedoch bewirken diese kritischen Stimmen, das etwas in Bewegung gerät. - Es hat zu jeder Zeit Leute gegeben, die sich für Veränderung einsetzten und auch etwas verändert haben, dabei. Doch bei alledem, darf nie zu großer Eigennutz entstehen - das bringt Verderbnis.
    Dabei stellt sich die Frage: warum sich Menschen trotz der vielen Nachteile das antun, und für eine bessere Welt ihr Leben geben -; den Eigennutz will ich hier mal ausklammern, denn ich bin überzeugt, das es auch ohne geht.
    Was treibt sie dazu?"
    "Interessante Frage, ja", kommentierte Michel sachlich. "Vielleicht sollte jeder in seinem Leben sich das hin und wieder fragen, und schauen, die eigene Chance dazu erkennen um zu verändern. Wenn alle bereit sind, ab und an Opfer zu bringen, ist jedem geholfen.
    "Das denke ich auch", meinte Marie. "Doch die wenigsten erkennen ihre Chance, und selbst dann ist es eine Frage des Wollens. Im Großen und Ganzen sind die Menschen in ihrem Leben planlos beziehungsweise ziellos unterwegs. Belächeln die, die etwas Besonderes ‚Vor' haben. Warum?"
    "Das ist sehr interessant, darüber lohnt es sich nachzudenken", meinte Michel nun nachdenklicher. "Vielleicht, weil sie den Sinn nicht erkennen - im Leben."
    "Wer weiß das schon", brachte sich jetzt auch Willi in die Diskussion mit ein.
    "Zumindest kann man sich einmal damit beschäftigen; zu verlieren hat dabei niemand etwas."
    "Genau, Anne, höchstens zu gewinnen", sagte Marie. "Wir sehen in unserem Bund einen Sinn auch darin, uns mit solchen Fragen zu beschäftigen, zum Beispiel: Warum sind wir, und wo wollen wir hin? Welchen Sinn hat das Leben überhaupt? Mal ganz einfach ausgedrückt. Dabei erwarten wir keine Antworten, aber es ist hin wieder interessant, sich mit dem Leben auseinander zusetzen." Nun machte Marie eine Pause, in der sie sich noch einmal vergewissern wollte, ob die anderen bereit waren, ihr weiter zu folgen.
    Nach einiger Zeit des Schweigens, welches gewiss besonders die letzten Gedanken mit sich gebracht hatte, stellte Anne gelöst fest: "Na, da bin ich ja beruhigt! Und ich finde es gut, was ihr da macht. Besser: Ich finde es äußerst wichtig. Das du uns davon noch nichts erzählt hast?"
    Michel musste daraufhin feixen: "Ja, Anne, wir können Marie vertrauen, doch auch ich bin überrascht. Das ist echt toll, was ihr da macht! Ich als bescheidener Kenner der Materie sage: Genehmigt! Sicher habt ihr für mich auch Verwendung - dabei würde ich gern mitmachen wollen."
    "Natürlich, du bist herzlich willkommen! Ich könnte mir nicht vorstellen, was dagegen spricht; die anderen sehen es gewiss ebenso. Schließlich müssen alle dafür abstimmen - können wir gleich bei unserem nächsten Treffen arrangieren. Sei denn, du brauchst noch Bedenkzeit.
    Du kannst dir die Leute ja erst einmal angucken und dir ein eigenes Bild von unserem Bund machen."
    "Gut, dann habe ich vielleicht schon am Samstag die Gelegenheit, deine Freunde kennen zu lernen und sie mich. Hilft das auch, um die richtige ‚Einstellung' zu bekommen?"
    "Ich glaub ja, wenn jemand Erfahrung damit hat, dann sie - besonders jene, an die du dich wegen deines Studiums wenden musst. Das heißt aber nicht, dass man dich umkrempeln will; soweit kenne ich meine Freunde, denke ich. Ihnen kann man vertrauen. - Man kann nicht allem hier misstrauen", sinnierte Marie.
    "Ja, ich freue mich auch, deine Freunde kennen zu lernen", gab Willi damit ebenfalls sein Einverständnis für das Treffen.

    Jeder ging nun den Aufgaben nach, wie sie Anne mit geübtem Geschick verteilt hatte.
    Marie überlegte, nachdem sie in ihrem Zimmer angekommen war, was Anne wohl in ihrem Beruf gemacht haben könnte. Sie sagte ihr ja am Anfang, dass sie in der Landwirtschaft tätig war. Aber welche Aufgabe sie dort hatte, wusste Marie nicht. Danach sollte sie einmal fragen.
    Marie saß jetzt an ihrem Küchentisch und schrieb den Brief an die Freundin. Zum einen enthielt er die Einladung für den Samstag, mit der Bitte um deren Weiterreichung. Und zum anderen die Bitte, sich für einen noch offenen Studienplatz für Michel zu erkundigen - wenn möglich in der gewünschten Fachrichtung.
    Damit wollte sie gleich zum Briefkasten, anschließend in die Gartenanlage. Hoffentlich, so dachte Marie, werde ich den Mann dort antreffen; wenn ich dann noch zu erfahren bekomme, was ich wissen will, ist der Tag gerettet.
    Marie schaute noch bei Michel vorbei, bevor sie losging. Er war gerade dabei in seinen neuen Zimmern im Turm, etwas alte Tapete von den Wänden zu entfernen. Denn Michel zog in das Obergeschoss, in die miteinander verbundenen Turmzimmer. Marie beneidete ihn fast darum, gern wäre sie damals auch dort hoch gezogen. Aber ihr war es sinnvoller erschienen, unten zu wohnen. Denn sie dachte, besonders weil sie allein lebte: so könnte sie eventuelle Eindringlinge eher wahrnehmen, als im Obergeschoss.
    Es gab aber in den beiden Zimmern viel zu tun. Als sie sich die jetzt genauer ansah, bemerkte sie, dass es wohl die am aufwendigsten zu renovierenden Zimmer sein mussten. Aber Michel wird das schon schaffen. Nun wandte sie sich an ihn: "Na, Michel, wie sieht es aus? Die Lage ist doch nicht hoffnungslos? Wo ist eigentlich Willi? Und warum machst du jetzt die Tapete ab?"
    "Na, sind das nicht ein paar Fragen zuviel auf einmal? - Willi kommt gleich wieder. Wir wollten sehen, wie es unter der Tapete aussieht. Nur so können wir feststellen, was gemacht und was wir einkaufen müssen.
    Ich sehe hier schon einige Probleme. Wir brauchen wahrscheinlich den Rat eines Profis. Diese Zimmer sind durch jahrelange Feuchtigkeit, die wahrscheinlich auch tief in den Wänden steckt, sehr beschädigt. Durch den großen Anteil an Außenwänden kein Wunder, und dann noch die Wetterseite. Es wäre schade, wenn wir renovieren und nach kurzer Zeit kommt Nässe durch. Und das ist zu befürchten. Kennst du jemanden den wir dazu befragen könnten?"
    "Ja, wenn wir am Samstag das Treffen haben und Ricke ist mit dabei, kann er es sich gleich mal ansehen. - Der ist neu in unserer Truppe, und war auch noch nicht hier. Mit ihm erhoffe ich mir einiges für das Schloss, da wir endlich einen Experten in unserer Runde haben."
    "Das ist gut. Ich werde inzwischen hier kleinere Arbeiten verrichten. Mal sehen was Willi sagt. Wir müssen sicher einiges an Putz herunternehmen: dann wird sich zeigen, in wie weit die Feuchtigkeit in den Wänden steckt. - Ich weiß nicht viel über die bauliche Beschaffenheit von Schlössern und da sie sehr alt sind, weiß man oft gar nicht was sie schon alles mitgemacht haben, Bautechnisch. Das muss bei einer ordnungsgemäßen Renovierung mit beachtet werden. Ein Fachmann erkennt das leichter.
    Tja, wir werden heute, auch wenn wir den Transporter haben, wohl für hier doch noch nichts einkaufen können, leider. - Na, das wird eine interessante, schwierige Aufgabe, aber ich bin optimistisch.
    Gut, das ich so etwas einmal zu sehen bekomme. Es gehört gewissermaßen ja auch zur Geschichte. Wer weiß, was dabei ans Tageslicht befördert wird; Geheimgänge, zugemauerte Raumteile…eingemauerte Tresore…"
    "Bis jetzt fanden wir nichts. Und ich glaube auch nicht, das es da was gibt, wir kennen ja das meiste schon. - Die ganzen Räume waren leer, bis auf den Müll der überall herumlag. Das gesamte Schloss war in einem sehr schlechten Zustand. Na ja, viel habe ich allein auch nicht schaffen können. Aber zum Glück seid ihr jetzt da.
    Als ich das erste Mal in das Schloss gegangen bin, wurde mir richtig übel. Aber ein zweiter Blick genügte schon und ich sah mehr.
    An der Außenfassade ist bisher ebenfalls nichts weiter gemacht worden, aber gemeinsam mit Willi, wird das auch bald vorangehen."
    "Habt ihr einen Keller?"
    "Ja, das gesamte Schloss ist unterkellert. Aber nur Willi hat es einmal gewagt hinunter zu gehen und er sagte, dass dort alles in bester Ordnung sei. Und er meinte noch, ich sollte ihn mir ruhig einmal anschauen, es sei interessant."
    "Ja, dann las uns doch bald mal gemeinsam in den Keller gehen! Das interessiert mich. Vielleicht gehen wir heute noch?", dabei blickte er Marie ziemlich auffordernd an.
    "Du scheinst wirklich Lust auf diesen Bunker da unten zu haben. Na ja, wenn Zeit ist heute, warum nicht. So nun muss ich aber los." Marie schaute auf ihre Armanduhr: "Oh, es ist ja gleich zehn -; also bis Mittag, tschüss!" Und schon eilte sie davon.
    Eigentlich wollte sie noch bei Anne vorbeischauen, aber sie ging an ihrer Tür vorbei. Sie hoffte eher, diese auf dem Hof anzutreffen - zeitmäßig war ihr das lieber.
    Und tatsächlich, als Marie auf den Hof hinunter kam, sah sie Anne in der Waschküche. Sie hatte heute ihren Waschtag.
    "Ah, Marie, da bist du ja! Warst bei Michel noch so lang, he. Jetzt aber schnell."
    "Ich fahr zuerst zum Briefkasten und dann in die Gartenanlage", bemerkte sie im vorbeigehen, um sogleich ihr Fahrrad aus dem Stall zu holen, dann verabschiedete sie sich eilig von Anne. Diese wünschte viel Erfolg und drückte ihr als Geste die Daumen.
    "Danke!", rief Marie und fuhr los.

    Marie machte sich nun, während sie mit dem Fahrrad zum Briefkasten fuhr, Gedanken über die Begegnung mit dem Mann. Sicher würde er nicht damit rechnen, sie schon jetzt wieder zu sehen. Wie wird er reagieren? Der Tag hatte heute gut angefangen, dass gab ihr etwas Mut. Sie durfte keine Unsicherheit zeigen: ‚sonst denkt er vielleicht noch, sie führt gegen ihn was im Schilde. Ach Quak', was sie nun schon wieder dachte, er hatte sie doch am Samstag kennen gelernt und da müsste er mitbekommen haben, wie sehr ihr das Schloss am Herzen liegt. Und das sie nicht versuchen würde, jemanden für ihre Zwecke zu benutzen.
    Irgendwie war ihr trotzdem nicht ganz wohl bei der Sache. Vielleicht lag es auch daran, das sie sich heute lieber mit angenehmeren Dingen befasst hätte: locker und leicht durch den Tag gehen, zum Beispiel, einfach das schöne Wetter genießen, Michel und Willi bei ihrer Arbeit helfen… -; vielleicht traf sie den Mann ja auch gar nicht an.
    Marie hatte den Brief in den Postkasten eingeworfen und war auf dem Weg zur Gartenanlage. An deren Haupttor angekommen, stieg sie von ihrem Fahrrad und lief durch den geöffneten Eingang. Ungefähr wusste sie noch, in welche Richtung sie gehen musste. So schlenderte sie durch die Gänge der Anlage und hielt Ausschau nach einem gelben Häuschen. Die Fläche dieser grünen Oase war überschaubar, meinte man auf den ersten Blick. Doch im Begehen eines solchen Labyrinthes, offenbarte sich erst dessen wirkliches Ausmaß. Bald kam es Marie vor, als sähe sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr, wie man so schön sagte, in dem Falle wohl eher die Gärten; es erschien ihr in dem Moment alles so gleich.
    Endlich musste sie auf dem richtigen Weg sein, an dem sich der Garten des Mannes befand. Marie fiel jetzt ein, dass sie seinen Namen gar nicht wusste. Da sie an dem Abend so aufgeregt war hatte sie ihn entweder vergessen, oder in der Verwirrung wurde nicht daran gedacht sich vorzustellen. -
    Nun sichtete sie das kleine gelbe Gartenhäuschen mit dem grünen Spitzdach. Es viel in der Masse an Dichtgedrängten Gartenparzellen sofort auf. Noch einige Meter hatte sie zu laufen bis sie schließlich vor dem kleinen Tor stand. ‚Ja, das muss es sein.' Von außen suchte sie nach dem kleinen Mann, aber sie sah ihn nirgends. Eine Klingel konnte sie auch nicht finden, also beschloss sie einfach hineinzugehen.
    Die Gartentür war nicht verschlossen. Marie öffnete diese und lief auf die Hütte zu, vorbei an prächtigen Gemüsebeeten. Doch nach ein paar Schritten blieb sie abrupt stehen und rief: "Hallo?"
    Es kam keine Antwort.
    Sie glaubte zu erkennen, dass es hinter dem Gartenhäuschen weiter gehen musste, also lief sie um dieses herum. Und Marie staunte nicht schlecht, über das kleine Paradies, welches sich vor ihr zu öffnen begann; es wurde offensichtlich mit viel Liebe hergerichtet. Die Blüten der Sträucher und Blumen stand in voller Bracht. Wohin man auch schaute: eine Vielzahl bunter Farben ringsherum mischte sich mit sattem Grün.
    In mitten eines Fleckchens gepflegtem Rasen, stand ein Springbrunnen mit einem nackten Engel. Aus seinem kleinen Schnuller lief unablässig Wasser, welches sich in einem Becken darunter sammelte. Ihm gegenüber befand sich eine Hollywoodschaukel. Jetzt erst bemerkte Marie auf dieser einen Mann, der zu schlafen schien. - Ja, und es war genau der, den sie suchte.
    Ob er allein hier war, dachte sich Marie. Sie schaute sich noch etwas genauer um. Vor der Schaukel stand ein wie es aussah, aus Naturholz gefertigter Tisch - wahrscheinlich selbst gezimmert. Rings um Schaukel, Brunnen und Tisch erstreckte sich ein Blumenbeet, bestehend aus vielen verschiedenen Arten und den schönsten Farben, welche man sich überhaupt vorstellen konnte; alles zusammen harmonierte so wunderbar - ohne das man es in irgendeiner Art hätte genauer beschreiben können. Und Marie fiel auf, da die eine Hälfte des Platzes im Schatten lag, wogegen auf die andere herrlich die Sonne schien, das damit dieses Örtchen in fast unwirklicher Weise in Erscheinung trat; so zumindest Empfand sie es.
    Das schattige Plätzchen in der Sitzecke wurde auch durch einen gut platzierten großen Laubbaum garantiert, der gewiss stets zuverlässig um die Mittagszeit, die brütende Hitze abhielt. Es war ein prachtvoller Baum, und bestimmt schon recht alt. Aber Marie konnte ihn nicht benennen, weil er, wie so vieles hier, anders war, als das was sie bisher kannte.
    Das auffälligste an der ganzen Szenerie jedoch, war für Marie die Ruhe. Nur ein paar Vögel zwitscherten, aber ansonsten lag eine ungewöhnliche Stille auf diesem Fleckchen. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr das hier so auffiel. Auf ihrem Schloss herrschte ja auch eine große Stille. Aber sicher wurde dieser Eindruck von der Umgebung noch gefördert. Marie empfand diesen Garten in seiner Gestaltung als Perfekt; hier ließen sich Kräfte, und vor allem die Sinne, gewiss wieder effektiv aufladen. Und sie meinte zu wissen, das man darin, selbst nach Stunden der Einsamkeit und Einkehr, dieser gewiss nicht überdrüssig wurde; ganz gleich, welcher Tätigkeit man sich gerade widmete, oder auch nicht. - Ja, Stille und Kraft harmonisieren hier wohl gemeinsam diesen Ort, auf wohltuender Weise.
    Marie stand nun unschlüssig da und schaute auf den Mann in der Schaukel - sie wusste nicht was sie tun sollte. Sie konnte ihn doch nicht aufwecken. Aber etwas ungewöhnlich erschien es Marie schon: am Vormittag zu schlafen…
    ‚Na, dann muss ich halt wieder gehen', meinte sie wieder etwas entschlossener zu sich selbst. War es ihr vielleicht doch recht, immerhin hegte sie Zweifel an dieser Aktion?
    Sie machte einen lauten Seufzer, wandte sich abrupt um und begab sich auf den Weg in Richtung Ausgang, da hörte sie ihren Namen rufen: "Frau Taube!"
    Marie wandte sich langsam wieder zu der Schaukel.
    "Das ist ja eine Überraschung, kommen Sie doch!"
    Der Mann hatte sich bereits aufgesetzt, sah aber noch recht verschlafen aus. Marie ging langsam auf die Schaukel zu bis sie an dem Tisch angekommen war, da blieb sie stehen und schaute, als sehe sie gerade einen Geist aufwachen.
    "Guten Tag, Herr...", sagte Marie verwirrt und stockte, und ihr war als wäre sie gerade ertappt wurden, wie sie sich heimlich davon stehlen wollte; zu dumm, das sie seinen Namen gar nicht kannte - schlimmer hätte es nicht mehr kommen können. Ein bisschen erinnerte sie sich noch an den Vornamen: ‚Jo… Joachim…'-
    Währenddessen blickte der Mann sie nur schmunzelnd an. Marie musste wahrlich komisch wirken, wie sie da Mitten in einem fremden Garten, vor einem halbverschlafenden Mann…
    "Entschuldigen Sie, Ihren Namen…habe ich vergessen..."
    "Gestatten: Hauser, Joachim!"
    "Ah - natürlich, eigentlich wollte ich gerade wieder gehen", meinte Marie schnell, vielleicht in der Hoffnung, dass dies alles entschuldigen würde.
    "Also noch einmal einen Guten Tag, Herr Hauser! Sie wundern sich bestimmt, was ich hier mache. Ich dachte nicht…also ich habe nach Ihnen gerufen… und ich weiß nicht, wie man sich hier bemerkbar macht.
    Ich habe ein wichtiges Anliegen, Sie zu besuchen", damit hatte Marie sich nun wieder einigermaßen gefangen.
    "Kein Problem! Ich hätte nicht gedacht, Sie so schnell wieder zu sehen. - Was haben Sie auf dem Herzen?"
    "Ja, also - wir haben auf dem Schloss ein kleines Problem. Wir wissen nicht so ganz, was wir davon halten sollen, geschweige denn, was wir tun können.", Marie holte dabei den Zettel hervor, der gestern bei ihnen abgegeben worden war.
    "Wir erhielten gestern diesen Brief", halb gefaltet überreichte sie ihn Herrn Hauser. "Vielleicht können Sie uns helfen, das zu verstehen?"
    Ohne große Beachtung nahm er ihn entgegen. "Ich werde Ihnen einen Stuhl holen, einen Moment bitte! Möchten Sie etwas trinken - einen erfrischenden Eis Tee oder Wasser?" "Ja, ich nehme einen Eis Tee, Danke!"
    Herr Hauser legte den Brief auf den Tisch und verschwand eilig in Richtung Hütte. Als er mit einem Stuhl zurück kam und Marie bat sich zu setzten, eilte er auch schon wieder davon. Kaum das sie saß trat er mit zwei gefüllten Gläsern - die wohl beide denselben Inhalt haben mussten - aus seiner Laube und stellte diese direkt neben den Zettel. Marie griff sofort begierig nach einem- vergaß dabei gar ihre guten Manieren - als zählte nun jede Sekunde um zu überleben -.
    Sie war während der letzten Minuten arg ins Schwitzen geraten. Doch Herr Hauser schien es ihr mit einem Lächeln nachzusehen; beide genossen nun in aller Ruhe das kühle Getränk.
    Marie nahm an, Herr Hauser würde sich als nächstes, ohne weiteren Kommentar von ihr, dem Brief zuwenden. Also versuchte sie jetzt ein weinig zu entspannen, vor allem jedoch diesen Augenblick zu genießen, in dem sie nichts verkehrt machen konnte. Erstaunlicherweise gelang ihr das recht schnell, und plötzlich schien sie frei von jeglichem Druck zu sein. Und sie hätte eine Ewigkeit in diesem Zustand verweilen können, fast vergaß sie sogar ihren Auftrag. Hier in diesem grünen Paradies verlor sich anscheinend die Zeit. Marie wurde mit einem Mal von einem Gefühl der Leichtigkeit erfasst.
    Herr Hauser, der es sich wieder auf seiner Schaukel bequem gemacht hatte, schien, während er genüsslich aus seinem Glas trank, Marie zu beobachten. Aber schließlich begann er sich die wenigen Zeilen intensiv zu erlesen. Das war der Moment, in dem Maries Sinne wieder leicht erwachten, aber sie beschloss, nicht seine Reaktion abzuwarten, stattdessen betrachtete sie noch etwas den Garten, und wartete, bis der Mann sich wieder an sie wandte.
    "So, jetzt erzählen Sie bitte!", seine Worte klangen dabei fast ein wenig resolut. Nachdem er jedoch Maries erschrecktes Gesicht sah, lächelte er milde.
    "Wie ich schon erwähnte, es geht um diesen Brief. Wir wissen nicht von wem er stammt. Er ist uns nicht persönlich übergeben worden, Absender ist ebenfalls nicht dabei. Der könnte von jedem sein -
    Was haben wir verkehrt gemacht, wir verstehen das wirklich nicht, warum will man unser Treiben nicht länger dulden - müssen wir das Ernst nehmen?", erwartungsvoll blickte sie den Mann an.
    "Also, entweder habe ich hier den falschen Brief, oder Sie erlauben sich mit mir einen recht dummen Scherz, Frau Taube."
    Marie guckte, als hätte sie gerade eine Ohrfeige erhalten. "Aber… zeigen Sie mal bitte", damit ließ sie sich den Brief wiedergeben. Und was sie da sah, begriff sie im ersten Moment gar nicht so recht, schließlich fiel es ihr gewaltig von den Schuppen: ‚oh, weh - oh, weh, was war ihr da bloß passiert. Oh, was sollte der Mann nur denken. Ja, wenn er bis jetzt von ihr und ihrer Idee überzeugt gewesen war, hatte sich das mit dem heutigen Tag erledigt - auf schlimmer und ewig, alle Zeit.
    Marie ließ sich in ihren Stuhl zurücksacken und überlegte, während sie auf den Brief an ihre Freundin starrte, wie sie aus dieser Nummer noch vernünftig herauskommen konnte. Vor allem was sollten erst die anderen davon halten, wenn sie ihren ‚vermeintlichen' Brief zu lesen bekommen, und zwar jenen, der ihnen anonym zugesteckt wurde.
    Es half nichts, Augen zu und durch: "Ich habe den falschen Brief hier. Dieser sollte eigentlich mit der Post verschickt werden. - Ist mir das peinlich. Es ist nicht mein Tag für derlei wichtige Dinge, ich wusste es bereits, als ich heute Morgen aufgestanden bin. Aber…", nun stockte Marie wieder. Wenn sie jetzt weiter redete, würde sie sich vielleicht ganz und gar um Kopf und Kragen reden. Ja, und die Sache wäre perfekt: ‚Die sind doch allesamt nur ne Nullnummer. Lassen wir sie noch ein bisschen rumwerkeln, und wenn es uns passt, schmeißen wir sie raus…'
    "Und den anonymen Brief haben Sie in den Briefkasten geworfen, adressiert an Ihre Freundin?"
    "Ja. - Wie konnte ich die beiden Briefe nur verwechseln? Wo war ich denn mit meinen Gedanken?"
    "Ach Frau Taube, machen Sie sich keine Vorwürfe. Es war sicher ein bisschen viel in letzter Zeit; Sie brauchen Urlaub."
    "Mag sein. Vielleicht hat mich der Brief doch mehr irritiert, als er sollte. Das war eindeutig eine Warnung. Ich verstehe das nicht: wir machen doch gar nichts Besonderes. Wir lieben das Schloss und wollen es erhalten, und das würden wir für nichts aufs Spiel setzen! Die Leute sollten sich mehr mit seiner Geschichte auseinandersetzen, dann würden sie uns auch besser verstehen.
    Gut, ich kann akzeptieren, dass ein Kommunistischer Staat sich nicht gern mit Herrschaften und Schlösser auseinandersetzt. Aber wo will man beginnen, Geschichte auszuradieren. - Andererseits setzt man Betonklötzer wild in die Landschaft. Nutzt jedes erdenklich schöne Plätzchen Natur, um es mit grauen einfallslosen Bauwerken zu verhöhnen. Menschen werden darin eingepfercht, und wenn sie aus dem Fenster schauen, dann sehen sie fast nur ringsherum Mauern; graues Gemäuer anderer unglückseliger Bauten. - Doch: Privilegierte erhalten nicht nur mehr Freiraum, nein, die Wissen, was ein Mensch zum Leben braucht. Ja, sie Wissen…aber für die Wirklichkeit sind sie Blind, wollen nicht Sehen!
    Nein, das wäre kein Leben für mich, ob so oder so. Ich will die Natur jeden Morgen in ihrer vollen Pracht erblühen sehen und erleben, wenn sie sich für eine zeitlang zurückzieht; auch diese Zeit hat ihren Reiz. Aber das ist nur reizvoll, in einer freien Natur.
    Mit diesen Schlössern hat man Geschichte zum anfassen - die Einen finden solch Prunk schön, Andere halten es für pure Verschwendung. Aber nur wenn man sich damit auseinandersetzen kann, ist das Verstehen um Sinn und Unsinn greifbar. Und das letzte was wir hier im Schloss betreiben, ist eine Huldigung der Verschwendung. Ebenso lebe ich hier auch nicht einen Traum als Prinzessin aus, nein. Ich sehe für mich in dem Schloss eine, oder vielmehr meine besondere Aufgabe. Wir betreiben hier eher geschichtliche Denkmalpflege - auch, wenn wir einiges wirklich lieber im Verborgenen belassen möchten. Doch um zu verstehen und Erkenntnisse miteinander verknüpfen zu können, braucht es nun mal das Ganze - und natürlich viel Geduld. Ja, auch das ist etwas, das anscheinend über die letzten Jahre hinweg seinen Sinn mehr und mehr verliert: Den Kopf mit eigenen Gedanken in Bewegung halten, und dabei die Geduld nicht verlieren - und damit den Glauben an sich selbst.
    Wir wollen wieder Leben in das alte Gemäuer bringen, es mit neuem Sinn erfüllen. Und ich finde, dies bekommt uns allen gut. Der Samstag wäre eine gute Möglichkeit gewesen, es zu zeigen. Leider hat sie kaum einer wahrgenommen -.
    Deshalb möchte ich Ihnen danken, dass Sie so offen mit der Sache umgehen. Ja, und ich dachte, das ich Sie zuerst fragen sollte, von wem der Brief gekommen sein könnte und wie Ernst wir ihn nehmen müssen.
    Was sollen wir jetzt tun?"
    "Ja, ich verstehe. Fragen, nichts als Fragen überall. Und keiner kennt Antworten. Auch ich kann Ihnen nur begrenzt damit dienen - zumindest für den Moment. Ich weiß von all dem zu wenig - gern würde ich mehr sagen. Einen Rat kann ich Ihnen aber mit auf den Weg geben, entscheiden müssen Sie letztendlich - allein. Sie sollten sich nicht verrückt machen lassen, denn ich glaube, das will man damit erreichen."
    "Den Gedanken hatten wir auch. Und um ehrlich zu sein, wollten wir nur noch einmal die Bestätigung, dass wir damit richtig liegen. - Interessant wäre es aber schon zu wissen von wem die Nachricht kommt, und, ist sie nun Amtlich oder nicht."
    "Sie alle müssen nur aufpassen, dass sie denen keinen Grund geben. Ich sagte Ihnen am Samstag bereits: Man beobachtet sie. Vielleicht wäre es besser gewesen, bevor Sie die Einladungen verschickten, um Erlaubnis für eine Veranstaltung zu bitten."
    "Ja, das haben wir uns auch gedacht. Für dieses Mal kommt es zu spät - aber für die Nächste sicher ein brauchbarer Tipp; falls es dazu noch kommt."
    Nach diesen letzten Worten betrachtete der Mann Marie eine Weile etwas sonderbar. "Sie haben doch nicht vor aufzugeben?", fragte er schließlich.
    "Nein, gewiss nicht, aber jetzt wird es langsam Zeit das ich gehe - ich muss versuchen das mit dem Brief zu klären. Vielleicht komm ich noch rechtzeitig zum Briefkasten, bevor er ausgelehrt wird. - Danke, Herr Hauser, für Ihr Interesse, Sie haben uns damit etwas geholfen. Es ist immer gut, eine unabhängige Meinung zuhören. Und ich bin überzeugt, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben. Warum auch? Aber ich würde schon gern wissen, was Sie beruflich machen; wenn Sie nichts dagegen haben?"
    Über die direkte Art, die Marie nun vorgab, war er ein wenig verblüfft. Aber ohne zögern antwortete er: "Ich habe eine recht unbedeutende Stelle im Amt…im Amt für Denkmalschutz."
    Marie hob jetzt erstaunt ihre Augenbrauen und schaute ihn mit großen fragenden Augen an. Vieles wurde jetzt in ihrem Kopf durcheinander geschleudert: ‚Denkmalschutz? Puh…aber Hallo!'
    "Ich habe, wie gesagt, nur eine unbedeutende Funktion in dieser Abteilung. Hauptsächlich beschäftige ich mich mit der Archivierung Denkmalgeschützter Häuser. Aber ich muss, dass sollten Sie verstehen, vorsichtig sein - ich mache meine Arbeit gern.
    Mir fällt da was ein: Vielleicht können wir ganz offiziell in diesem Bereich zusammenarbeiten? Ich glaube, dass es nicht unbemerkt bleiben wird, dass es den Kontakt zwischen uns gibt. Wir haben dann die Möglichkeit, offener miteinander zu verhandeln. Es muss jedoch so aussehen, das ich mehr Interesse an ihrem Schloss zeige, als Sie an meiner Position; sonst bekomme ich…keine Informationen, und das wäre sicher noch das kleinere Übel. Andererseits muss ich damit rechnen, dass man versuchen wird mich mehr in die Angelegenheit mit hineinzuziehen, in der Hoffnung, ich kann denen helfen.
    Das wird ne heikle Sache, doch einen Versuch ist es Wert, denke ich. - Übrigens, privat beschäftige ich mich intensiver mit alter Architektur. Zum Beispiel weiß ich so einiges über die Sanierung alter Gebäude, besonders die Fassadentechnik interessiert mich. Innensanierung ist nicht so mein Fach, leider. Aber ein wenig Erfahrung habe ich auch da, vor allem im Bereich Mauerwerk.
    Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen: Als ich gehört habe, dass Sie das Schloss retten wollen, war ich sehr beeindruckt. Ja, also…gern halte ich dafür meine Augen und Ohren offen - wenn ich der Sache damit dienlich sein kann."
    "Heu, da bin ich jetzt aber überrascht, um nicht gar zu sagen überwältigt. Es würde uns sicher ein wenig weiterhelfen. Aber seien Sie vorsichtig! Wegen Ihnen und auch wegen uns."
    "Dafür ist wichtig: das keiner - außer uns beide - davon erfährt! Keiner!
    "Keiner? - Ja gut. Es ist gewiss besser so."
    "Nicht, das ich den anderen nicht traue, aber ein jeder der davon weiß, ist ein Risiko - wir beide haben einiges dabei zu verlieren."
    "Ja, da haben Sie gewiss Recht. - ‚Wer hätte das gedacht', sinnierte Marie: ‚Dieser nette ältere Herr, er war vielleicht so um die fünfzig, was da so schlummerte. War es einfach nur das Interesse am Schloss, oder gar an ihr - mm. Oder Umtrieb ihn ein besonderer Kick daran - vielleicht am Versteckspiel. Er in der Rolle eines Geheimagenten, hm - würde ihm sogar stehen.'
    "Ich werde verschwiegen sein, Herr Hauser, da können Sie sich verlassen!" Marie hatte bewusst überzeugend klingen wollen, denn sie meinte, dass es jetzt darauf ankam, verlässlich zu wirken. Aber in ihr blieben dagegen noch viele Zweifel.
    "Ja, glauben Sie mir, es ist besser so", setze er nochmals nach, als würde von ihrer Verschwiegenheit alles abhängen.
    War es purer Patriotismus, der den Mann dazu gebracht hatte, über seinen Schatten zu springen; oder ist es einfach nur naiv, an so was zu glauben? Dass er alte Schlösser mochte, musste bei ihm längst noch nicht bedeuten, dass er vorhatte ein Held zu werden. Witterte er in dieser Sache eine Chance? Was könnte es ihm am Ende einbringen, dass er es wagt, aus seinem Fuchsbau zu klettern. Vielleicht ist ihm seine Arbeit im Archiv langweilig geworden, und nun sucht er Abwechslung. - Ob der Mann verheiratet ist? Marie sah keinen Ring an seinem Finger; oder er lebte nur mit jemanden zusammen. Aber sie würde nicht danach fragen, es war unwichtig.
    Je mehr sie über den Mann begann nachzudenken, umso geheimnisvoller erschien er ihr. - Nun gut, sie würde später noch mal darüber nachdenken, was sie von ihm halten sollte.
    Laut sagte Marie zu ihm: "Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben!", damit stand sie auf. - "Ach, was ich noch sagen wollte: Sie haben einen wundervollen Garten. Damit lässt sich vieles zurückholen - ich meine, wenn man soviel tristes grau täglich verkraften muss."
    "Ich verstehe, was Sie meinen; ja, genau so ist es gedacht. Mit meinen Blumen habe ich echtes Glück, das sie so gut gedeihen. - Frau Taube, Ihr Besuch war mir wirklich sehr angenehm. Und wenn Sie mich wieder mal sprechen wollen, so können Sie jederzeit in den Garten kommen. Nächste Woche bin ich wieder auf Arbeit, anschließend fahre ich aber immer hier her; wenn es regnet allerdings weniger, es sei denn, mir fällt zu Hause die Decke fast auf den Kopf. Ich bin meist bis Ende September hier draußen und das Wochenende sowieso."
    Marie wollte Herrn Hauser zum Abschied die Hand reichen, als er jedoch meinte: "Gehen sie vor, ich begleite sie noch bis an das Tor."